Pendergast 06 - Dark Secret - Mörderische Jagd
ein solches Erbarmen nicht zeigen.
Sein Blick schweifte zurück zur Leinentasche auf dem Beifahrersitz. Er hatte die Tasche nicht mehr geöffnet, seit er sie Stunden zuvor gefüllt hatte. Der transzendentale Augenblick, da er die Diamanten in Muße betrachten, genauer gesagt, in sie hineinschauen würde, war fast gekommen. Der Augenblick der Freiheit, der Befreiung, nach dem er sich so lange gesehnt hatte.
Denn nur durch das intensive, glänzende, gebrochene Licht, das ein Diamant von tiefdunkler Farbe aussandte, konnte Diogenes, wenn auch nur für einen Moment, seinem schwarzweißen Gefängnis entfliehen. Nur dann vermochte er jene fernsten und begehrtesten seiner Erinnerungen wiedereinzufangen – die Essenz der Farbe. Und von all den Farben, nach denen er sich am meisten sehnte, war Rot seine alles verzehrende Leidenschaft. Rot in seinen Myriaden von Erscheinungsformen.
Luzifers Herz. Ebendort würde es anfangen und enden. Das Alpha und das Omega der Farbe.
Und dann gab es da noch Viola, mit der er sich befassen musste. Die Instrumente waren schon alle gesäubert, poliert, geschliffen und aufs Äußerste geschärft. Mit Viola würde er sich Zeit lassen. Sie war ein grand cru -Wein, der es wert war, dass man ihn aus dem Keller holte, auf Zimmertemperatur brachte, entkorkte und atmen ließ – ehe man ihn genoss, einen köstlichen Schluck nach dem anderen, bis zur Neige. Viola musste leiden – nicht um ihretwillen, sondern wegen der Spuren, die er auf ihrem Leib hinterlassen wollte. Und keiner konnte diese Spuren besser deuten als Aloysius. Sie dürften in ihm einen Schmerz hervorrufen, der der Pein des Besitzers des Leibes ebenbürtig sein, wenn nicht gar diese übertreffen würde.
Vielleicht sollte er mit einer Nachstellung anfangen, im feuchten, steinernen Kellergeschoss des Cottage, und zwar der Szene, die in Judith und Holofernes dargestellt wird. Es war schon immer sein Lieblingsgemälde von Caravaggio gewesen. Er hatte stundenlang davorgestanden, in der Galleria Nazionale d’Arte Antica in Rom, hingerissen vor Bewunderung: die wunderschöne kleine Falte der Entschlossenheit auf Judiths Stirn, als sie ihr Werk mit dem Messer vollbrachte; die Art, wie sie jeden Teil ihres Körpers, abgesehen von ihren bloßen Händen und Armen, fort von der schmutzigen Arbeit hielt, die sie gerade vollzog; die hellen breiten Streifen Blut, die schräg über die Bettlaken liefen. Ja, das dürfte einen schönen Beginn ergeben. Vielleicht konnten er und Viola ja das Gemälde gemeinsam betrachten, bevor er sich an die Arbeit begab. Judith und Holofernes. Mit vertauschten Rollen, natürlich, und unter Hinzufügung eines Aderlassbeckens aus Zinn, damit nichts von dem kostbaren Saft verloren ging…
Diogenes fuhr durch die menschenleere kleine Ortschaft Gerard Park. Vor ihm tauchte die Gardiners Bay auf, wie eine matt schimmernde kalte Folie aus Zink, durchbrochen von den dunklen Umrissen ferner Inseln. Der Wagen bog gemächlich nach rechts auf den Gerard Drive ab. Acabonack Harbor auf der rechten Seite, die Bucht zur Linken. Weniger als eine Meile jetzt. Und während er weiterfuhr, lächelte er matt.
»Vale, Frater«, sagte er leise. »Vale.«
Viola hatte den Stuhl unter das vergitterte Fenster gezogen und verfolgte mit dem Gefühl einer nahezu surrealen Distanz, wie der erste Lichtstrahl über dem dunklen Atlantik heraufzog. Es kam ihr alles wie ein Albtraum vor, aus dem sie nicht erwachen konnte, wie ein Traum, der ebenso real und lebendig wie sinnlos war. Doch am meisten Angst machte ihr die Erkenntnis, dass Diogenes keine Mühe und Kosten gescheut hatte, diese kleine Zelle zu bauen – die Wände, der Fußboden und die Decke aus genietetem Stahl, die Stahltür mit einem Tresorschloss versehen, von den unzerbrechlichen Scheiben, den speziellen Leitungen und Verkabelungen ganz zu schweigen. Der Raum war so sicher wie eine Zelle in einem Hochsicherheitsgefängnis – vielleicht noch sicherer.
Warum? Konnte es denn wirklich sein, dass sie jetzt, während die Morgendämmerung heraufzog, nur noch wenige Stunden zu leben hatte?
Abermals verdrängte sie diese nutzlosen Spekulationen aus ihren Gedanken. Sie war schon längst zu dem Schluss gelangt, dass eine Flucht ausgeschlossen war. In den Bau ihres Gefängnisses war eine Menge Überlegung eingeflossen, jede Anstrengung ihrerseits, einen Ausweg zu suchen, war vorweggenommen und unterbunden worden. Diogenes war die ganze Nacht fort gewesen – zumindest sagte ihr das die
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