Pendergast 06 - Dark Secret - Mörderische Jagd
einmal gegenüber einem anderen Polizisten. Sie wissen ja, wie das mit verdeckten Ermittlungen so ist.«
Der Mann nickte heftig. »Na klar. Ich lese sowie nur eine Sorte Bücher: Dokumentationen über wahre Verbrechen.«
Pendergast dankte dem Mann und wandte sich ab. Eine Minute später saßen sie in dem Pick-up und fuhren los.
»Hiermit dürften wir ein paar Stunden Vorsprung gewonnen haben«, sagte Pendergast und fuhr schnell zurück in Richtung Montauk-Highway.
55
Langsam, ganz ohne Eile fuhr Diogenes Pendergast durch die trostlosen verschneiten Stadtlandschaften entlang des Old-Stone-Highway: Barnes Hole, Eastside, Springs. Vor ihm sprang eine Ampel auf Rot, und er ließ den Wagen vor der Kreuzung ausrollen.
Er blickte nach links, dann nach rechts. Zur einen Seite erstreckte sich ein winterlicher Kartoffelacker, die Erde war gefroren und mit Schnee bestäubt. An seinem Rand erhob sich ein dunkler Wald mit kahlen Bäumen, deren Äste weiß aus dem Dunkel ragten. Die Welt war schwarz und weiß, sie hatte keinerlei Tiefe. Sie war flach wie in einem konfektionierten Albtraum von Edwin A. Abbott. Pfui, wie im Fieber klingt es, was ich sprach …
Die Ampel sprang auf Grün; Diogenes drückte langsam aufs Gaspedal. Der Wagen schob sich vor und bog nach rechts auf die Springs Road, während er das Lenkrad drehte und dann zurück durch die Hände gleiten ließ, so dass der Wagen wieder geradeaus fuhr. Er gab Gas und nahm den Fuß leicht vom Pedal, als der Wagen das Tempolimit erreicht hatte. Rechts von ihm lagen weitere graue Kartoffeläcker; hinter diesen erhoben sich mehrere Reihen grauer Häuser, hinter denen sich wiederum die Marsch von Acabonack erstreckte.
Alles war grau, von einem erlesenen Grau.
Diogenes griff zum Armaturenbrett und drehte den Heizungsregler mehrere Stufen nach rechts, wodurch sich der Wärmestrom in dem Gehäuse aus Glas, Stahl und Plastik, das seinen Körper umgab, verstärkte. Diogenes empfand weder Triumph noch den Wunsch nach Rechtfertigung, sondern nur eine eigenartige Art der Leere: jene Art, die mit dem Erreichen von etwas Bedeutendem einhergeht, der Vollendung einer lange geplanten Tat.
Diogenes bewohnte eine graue Welt. Farbe drang nur flüchtig zu ihm durch, wenn er am wenigsten damit rechnete. Dann stahl sie sich an den Rand seines Sehfeldes wie ein Zen – Koan. Koan. Ko. Koan ko. Kickeriki, Rickeriki…
Vor langer Zeit war das Grau schwächer geworden, hatte sich zu einem in Form und Farbe monochromen Universum gewandelt, in der eine wirkliche Farbigkeit selbst aus Diogenes’ Wachträumen verschwunden war. Nein, nicht ganz. Eine solche Aussage wäre heuchlerisch, melodramatisch. Es gab eine letzte Quelle von Farbe in seiner Welt, und die war hier, in der Leinentasche neben ihm.
Der Wagen fuhr die leere Straße entlang. Niemand war draußen. An der Veränderung der monochromen Landschaft ringsum erkannte er, dass die Nacht ihren Fesselgriff auf die Welt langsam zu lockern begann. Die Morgendämmerung war nicht mehr weit. Doch Diogenes hatte so wenig Verwendung für Sonnenlicht, wie er wenig Verwendung für Wärme oder Liebe, Freundschaft oder irgendeines der zahllosen Dinge hatte, welche die anderen Menschen am Leben erhielten.
Während er fuhr, ließ er die Geschehnisse der vergangenen Nacht in allen Details Revue passieren. Er ging jede einzelne Handlung, Bewegung, Aussage durch und stellte zu seiner eigenen Freude und Zufriedenheit fest, dass er keinen Fehler begangen hatte. Zugleich dachte er an die vor ihm liegenden Tage und hakte im Geist die Vorbereitungen ab, die er treffen musste. Die Aufgaben, die er durchführen musste, die große Reise, die er antreten würde – und natürlich das Ende der Reise. Er dachte an Viola, an seinen Bruder, an seine Kindheit, an die vielfältigen, vielgestaltigen Wachträume, die realer wirkten als die Gegenwart. Anders als die anderen Menschen aus Fleisch und Blut, aus denen meine Art besteht, kann ich, dachte Diogenes, mehrere getrennte Gedankengänge in meinem Hirn gleichzeitig verarbeiten.
Das »Ereignis«, das Diogenes’ Welt jeder Farbe beraubt hatte, hatte ihm auf ewig die Fähigkeit zu schlafen genommen. Völliges Vergessen war ihm verwehrt. Stattdessen trieb er so dahin, während er auf seinem Bett lag, in einer Welt voller Wachträume: Erinnerungen an die Vergangenheit, Katastrophen, Konversationen, Konvulsionen, bestimmte Tiere, die er vergiftet und mit erlesener Zurückhaltung zu Tod gebracht hatte, gestreckte
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