Pendergast 06 - Dark Secret - Mörderische Jagd
auf den Fußboden. Pendergast blieb einen Augenblick reglos stehen. Dann streifte er einen Handschuh ab. Er musste sich weit vorbeugen, um nicht in die Blutlache zu treten, die sich unter Deckers Stuhl gebildet hatte, als er seinen Handrücken auf Deckers Stirn legte. Die Haut fühlte sich weich und elastisch an, und die Temperatur war nicht niedriger als Pendergasts.
Abrupt zog er die Hand zurück. Im Haus war es totenstill – bis auf das stete Tropfen.
Die Seufzer, das wusste Pendergast, waren postmortem: Luft, die aus den Lungen entwich, während das Bajonett gegen den sich entspannenden Körper drückte. Wie auch immer, Mike Decker war weniger als fünf Minuten tot. Wahrscheinlich weniger als drei.
Doch wieder zögerte Pendergast. Wann genau der Tod eingetreten war, war irrelevant. Viel wichtiger war die Erkenntnis, dass Diogenes gewartet hatte, bis Pendergast im Haus war, und erst dann Decker ermordet hatte.
Und das bedeutete, dass sich sein Bruder möglicherweise noch irgendwo hier aufhielt, in diesem Haus.
In der Ferne, kaum zu hören, ertönte das Geheul von Polizeisirenen.
Auf der Suche nach dem geringsten Hinweis, der ihm helfen könnte, seinen Bruder aufzuspüren, durchkämmte Pendergast mit funkelnden Augen den Raum. Schließlich blieb sein Blick an dem Bajonett haften – und da erkannte er es plötzlich. Sein nächster Blick galt Deckers Händen. Die eine lag schlaff da, die andere war zu einer Faust geballt.
Pendergast ignorierte die näher kommenden Polizeisirenen, zog einen goldenen Füllfederhalter aus der Tasche und öffnete damit vorsichtig die verkrampften Finger, zwischen denen er drei blonde Haarsträhnen entdeckte. Er zog eine Juwelierlupe aus seiner Jackentasche, beugte sich vor und untersuchte die Haare. Griff erneut in die Tasche, tauschte die Lupe gegen eine Pinzette aus. Sehr behutsam zog er jede einzelne Strähne aus der reglosen Hand.
Die Sirenen wurden immer lauter.
Inzwischen war Diogenes sicherlich fort. Er hatte die Szene choreographiert, hatte sie mit ihren vielen Variablen perfekt hinbekommen. Er war ins Haus eingedrungen, hatte Decker ohne Zweifel mit irgendeiner Art Betäubungsmittel ruhig gestellt und dann auf seinen Bruder gewartet, bis er schließlich Decker umbrachte. Höchstwahrscheinlich hatte Diogenes absichtlich die Alarmanlage ausgelöst, während er das Gebäude verließ.
Ein leitender FBI-Agent lag tot in seinem Haus, das man auf der Suche nach verwertbaren Spuren auf den Kopf stellen würde. Diogenes würde nicht das Risiko eingehen, sich in der Nähe aufzuhalten – und er durfte das auch nicht.
Er hörte das Quietschen von Autoreifen, eine Vielzahl von Sirenen, während eine Phalanx von Streifenwagen die Oregon Avenue entlangjagte, jetzt nur noch Sekunden vom Haus entfernt. Pendergast warf einen letzten Blick auf seinen Freund, wischte sich rasch eine Träne aus dem Augenwinkel und rannte die Treppe hinunter.
Die Eingangstür stand weit offen, ein Lämpchen der Alarmanlage daneben blinkte rot. Pendergast sprang über den toten Weimaraner, lief zur Hintertür hinaus, schnappte sich seinen Attachékoffer, sprintete quer durch den Garten, ließ die Haarsträhnen auf einen Haufen Laub fallen und verschwand wie ein Gespenst in den schattigen Tiefen des Rock Creek Park.
17
Margo Green traf als Erste im altehrwürdigen Murchinson-Konferenzraum des Museums ein. Während sie sich auf einen der alten Lederstühle vor dem mächtigen Eichentisch aus dem 19. Jahrhundert setzte, ließ sie den Blick über die fabelhaften – aber einigermaßen beunruhigenden – Einzelheiten schweifen: die Trophäenköpfe von inzwischen bedrohten Arten an den Wänden; die Elefantenstoßzähne links und rechts an der Tür; die afrikanischen Masken, Leoparden-, Zebra- und Löwenfelle. Murchinson hatte seine Exkursionen nach Afrika vor über einem Jahrhundert unternommen und neben seiner ernsthafteren Profession, der Ethnologie, auch Karriere als weißer Großwildjäger gemacht. Am anderen Ende des Raums sah man sogar ein paar Abfalleimer aus Elefantenfüßen. Aber das hier war ein Museum, und man durfte eben nicht alles wegwerfen, ganz gleich, wie politisch unkorrekt die Gegenstände mittlerweile waren.
Margo nutzte den Augenblick der Ruhe, ehe die übrigen Mitglieder ihrer Abteilung eintrafen, um ihre Notizen durchzulesen und ihre Gedanken zu ordnen. Sie verspürte eine Nervosität, die sie einfach nicht unterdrücken konnte. Tat sie das Richtige? Sie arbeitete jetzt seit sechs
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