Pendergast 07 - Maniac - Fluch der Vergangenheit
kreischte und schrie. Immer wieder … und wieder. Ein furchtbares krabbelndes Geräusch drang an mein Ohr, während Diogenes versuchte, aus der Kammer herauszukommen – ich hörte, wie seine Fingernägel brachen. Dann entstand eine lange Stille … und dann – ich weiß nicht, wie viel später – ertönte der Schuss.«
»Aus einer Waffe?«
»Comstock hatte sein … Haus der Schmerzen mit einem einschüssigen Derringer ausgestattet. Er gab seinem Opfer eine Wahl. Es konnte verrückt werden; es konnte vor lauter Angst sterben … oder es konnte sich das Leben nehmen.«
»Und Diogenes entschied sich für Letzteres.«
»Ja. Aber die Kugel hat ihn … nicht getötet. Sie hat ihn nur verletzt.«
»Wie haben Ihre Eltern reagiert?«
»Zunächst haben sie geschwiegen. Dann haben sie so getan, als sei Diogenes erkrankt, Scharlach. Sie haben es geheim gehalten. Sie hatten Angst vor dem Skandal. Mir haben sie gesagt, dass das Fieber Diogenes’ Sehvermögen und seinenGeschmacks- und Geruchssinn beeinträchtigt habe. Dass er dadurch auf einem Auge erblindet sei. Aber jetzt weiß ich, dass es die Kugel gewesen sein muss.«
Glinn erschauerte. Plötzlich verspürte er das abwegige Bedürfnis, sich die Hände zu waschen. Allein der Gedanke an etwas so Entsetzliches, so absolut Furchterregendes, der Umstand, dass ein Siebenjähriger sich gezwungen sah … Er schob diese Vorstellung mit aller Macht beiseite.
»Und diese kleine Kammer, in der Sie gefangen waren«, sagte er, »diese Fotografien, die Sie erwähnten … was war darauf zu erkennen?«
»Das waren offizielle Tatort-Fotografien und Polizei-Skizzen der schrecklichsten Morde der Welt. Vielleicht war das eine Art, das Opfer auf das folgende … Grauen vorzubereiten.«
Es war ganz still im Zimmer.
»Und wie lange hat es gedauert, bis man Sie befreit hat?«, fragte Glinn schließlich.
»Ich weiß es nicht. Stunden, vielleicht einen Tag.«
»Und als Sie aus diesem absoluten Alptraum erwachten, wurde Ihnen gesagt, dass Diogenes krank geworden sei. Was wiederum seine lange Abwesenheit erklärte.«
»Ja.«
»Sie hatten keine Ahnung, was wirklich geschehen war?«
»Nein, keine.«
»Und doch ist Diogenes nie klargeworden, dass Sie die Erinnerung an das Geschehene verdrängt hatten.«
Mit einem Mal blieb Pendergast stehen. »Nein. Ich glaube nicht.«
»Infolgedessen haben Sie sich bei Ihrem Bruder nie entschuldigt, haben nie versucht, das Geschehene wiedergutzumachen. Sie haben es sogar niemals erwähnt, weil Sie jegliche Erinnerung an dieses Ereignis verdrängt hatten.«
Pendergast wandte den Blick ab.
»Aber für Diogenes hat Ihr Schweigen etwas ganz anderes bedeutet. Nämlich Ihre hartnäckige Weigerung, Ihr Fehlverhalten einzugestehen, um Vergebung zu bitten. Und das würde erklären …«
Glinn verstummte. Langsam schob er seinen Rollstuhl zurück. Er wusste zwar noch nicht alles – dazu bedurfte es der Computeranalyse –, aber doch genügend, um klar zu erkennen, was passiert war, jedenfalls in groben Umrissen. Von frühester Kindheit an war Diogenes merkwürdig gewesen, undurchsichtig und brillant zugleich, so wie viele Pendergasts vor ihm. Wenn das EREIGNIS nicht eingetreten wäre, hätte er seinem Leben die eine oder die andere Richtung geben können. Doch der Mensch, der aus dem Eingang zur Hölle heraustrat, war – psychisch wie körperlich verwüstet – ein ganz anderer geworden. Ja, alles ergab Sinn: die grausigen Bilder der Verbrechen, die Todesfälle, die Pendergast zu beklagen hatte, Diogenes’ Hass auf seinen Bruder, der sich weigerte, von den seelischen Qualen zu sprechen, die er verursacht hatte, Pendergasts eigenes unnatürliches Hingezogensein zu pathologischen Verbrechen … Nun ergab das Verhalten der Gebrüder Sinn. Und jetzt begriff Glinn auch, warum Pendergast diese Erinnerung so vollständig verdrängt hatte. Der Grund war nicht nur, dass ihr Inhalt so furchtbar war. Nein – der Grund war, dass die Schuld so überwältigend war, dass sie Pendergasts geistige Gesundheit bedrohte.
Vage wurde Glinn gewahr, dass Pendergast ihn ansah. Steif wie eine Statue stand der Agent vor ihm, seine Haut wie grauer Marmor. »Mr. Glinn«, sagte er.
Glinn hob die Augenbrauen; eine stumme Frage.
»Es gibt nichts mehr, was ich sagen kann oder werde.«
»Ich habe verstanden.«
»Ich brauche jetzt fünf Minuten für mich allein, bitte. Ohne irgendeine Form der Unterbrechung. Und danach können wir … weitermachen.«
Nach einem kurzen Augenblick
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