Pendergast 08 - Darkness - Wettlauf mit der Zeit
dem Schatten. Als er das Licht anschaltete, war er kurz geblendet von der außergewöhnlichen und eklektischen Kunstsammlung, die sich seinen Blicken darbot: frühe kubistische Gemälde von Braque und Picasso, wahllos vermischt mit Meisterwerken asiatischer Malerei sowie Skulpturen aus Indien, Südostasien, Tibet und China. Aber da waren auch noch andere Schätze: ein Tisch, auf dem eine ganze Reihe alter englischer Schnupftabakdosen aus getriebenem Silber und Gold standen; mehrere Schatullen mit antiken griechischen Goldmünzen; eine bunte Sammlung von, so schien es, römischen Toga-Nadeln und -Spangen.
Die Sammlung zeugte alles in allem von einem Sammler mit gutem Auge, makellosem Geschmack und enorm tiefen Taschen. Mehr noch: Es war das Werk eines Mannes von wahrer Kultur und echtem Urteilsvermögen, einem Mann mit Interessen und Kenntnissen.
War das hier, fragte sich Pendergast, derselbe Mann, der Jordan Ambrose ermordet und dann auf sadistische Weise verstümmelt hatte? Wieder fiel ihm ein, dass der Mord an Ambrose in jeder erdenklichen psychologischen Hinsicht unstimmig war.
Er steuerte geradewegs auf den großen Aktenschrank am anderen Ende des Zimmers zu, in dem, wie Constance ihm berichtet hatte, der Safe der Suite untergebracht war. Er öffnete den Schrank, zog die magnetische Ausweiskarte hervor, die Kemper ihm zur Verfügung gestellt hatte, schob sie in den Schlitz. Kurz danach sprang die Tür mit leisem Klicken einen Spaltbreit auf.
Er zog die Tür weiter auf. Ein starker Geruch nach Harz und Rauch schlug ihm entgegen. Mit Ausnahme eines langen, rechteckigen Holzkastens, bedeckt mit verblichener tibetischer Schrift, war der Tresor leer.
Er zog den Kasten mit äußerster Sorgfalt heraus, wobei ihm auffiel, wie leicht er war. Der Kasten war dermaßen mit Insektenlöchern übersät, dass er einem ausgetrockneten Schwamm glich, der bei der leichtesten Berührung zerkrümelte und staubte. Er entriegelte den alten Messingverschluss und klappte vorsichtig den Deckel auf, der ihm zwischen den Händen zerfiel. Dann warf er einen Blick in den Kasten.
Er war leer.
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43
Auf der Kommandobrücke ertönte der Summer der Sicherheitsanlage und zeigte damit an, dass jemand hereinkam. Kurz darauf erschien Kemper in der Lukentür. LeSeur erschrak bei seinem Anblick: Das Gesicht des Mannes war grau, das Haar klebte an seinem Kopf, die Kleidung war unordentlich. Kemper sah aus, als hätte er seit einer Woche nicht mehr geschlafen.
»Was ist denn?«, fragte er und blickte zu Commodore Cutter, der die Brücke noch nicht verlassen hatte. Cutter lief auf und ab. Das Schiff fuhr auf Autopilot – diese Verbindung von Software, Mechanik und Satellitentechnik, dieses wahre Wunderwerk der Schiffsingenieurkunst, das ein Schiff besser auf Kurs halten konnte als jeder menschliche Navigator und dadurch auch bedeutende Mengen an Treibstoff einsparte. Das einzige Problem ist, dachte LeSeur, dass der Autopilot noch immer einen Kurs nach New York City steuert.
»Das vermisste Mädchen ist gefunden worden«, sagte Kemper leise. »Zumindest ein Teil von ihr.«
Eine jähe Welle des Grauens schlug über LeSeur zusammen, während er die Information zu verarbeiten versuchte.
»Ein Teil von ihr«, wiederholte er schließlich. Es kam ihm vor, als wäre seine Kehle ausgedörrt.
»Teile einer menschlichen Leiche – Eingeweide, innere Organe – wurden in einer Schaufensterpuppe gefunden, in einem der
Regent-Street
-Geschäfte. Etwa zur selben Zeit wurden ein blutverkrustetes Armband und … geronnenes Blut sowie weitere Sachen von einem Suchtrupp an der Achter-Backbordreling auf Deck 1 gefunden.«
»Der Rest wurde also über Bord geworfen«, sagte LeSeur sehr leise. Das hier war ein Alptraum. Ein absoluter Alptraum.
»So hat es den Anschein, Sir. Der iPod des Mädchens wurde auf Deck B gefunden, vor der Lukentür, die zu den Maschinenräumen führt. Wahrscheinlich wurde sie dort unten angesprochen, auf Deck 1 geführt oder getragen, dann auf dem Wetterdeck ermordet und zerstückelt und über Bord geworfen – wobei einige, ähm, Trophäen behalten wurden. Diese wiederum wurden in das Pelzgeschäft in der
Regent Street
hinaufgebracht und in eine Schaufensterpuppe gestopft.«
»Wissen die Passagiere schon davon?«
»Ja. Die Sache scheint sich schnell herumzusprechen. Sie werden schlecht damit fertig.«
»Wie schlecht?«
»Ich habe mehrere hysterische Szenen miterlebt. Einem Mann im
Covent-Garden
-Casino mussten wir eine
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