Pendergast 08 - Darkness - Wettlauf mit der Zeit
menschliche Schädelkappen, verziert mit Edelmetallen und funkelnden Intarsien aus Türkisen und Korallen. In einem anderen Bereich drängten sich Statuen aus Gold und Silber, eine davon mit Hunderten von Sternsaphiren geschmückt; in Holzkisten ganz in der Nähe erkannte er auf Stroh gebettete durchscheinende Schüsseln, Figuren und Tafeln aus feinster Jade.
Unmittelbar links von Pendergast befand sich der größte Schatz von allen: Hunderte kleine Kämmerchen, vollgestopft mit staubigen Schriftrollen, gerollten
thangkas
und Bündeln aus Pergament und Kalbsleder mit Schleifen aus Seidenkordeln.
So erstaunlich war dieser Schatz, dass Pendergast erst nach einer Weile die Person wahrnahm, die im Lotussitz auf einem Kissen in der nächstgelegenen Ecke saß.
Der Mönch, der ihn hierhergeführt hatte, verneigte sich, legte die Hände aneinander und zog sich zurück. Hallend fiel die Eisentür ins Schloss, der Schlüssel drehte sich. Der Mönch im Lotussitz deutete auf ein Kissen neben sich. »Bitte setzen Sie sich doch«, sagte er auf Englisch.
Pendergast verneigte sich und nahm Platz. »Ein höchst bemerkenswerter Raum.« Er machte eine kurze Pause. »Und ein höchst ungewöhnlicher Weihrauch.«
»Wir sind die Hüter der Schätze des Klosters – des Goldes und des Silbers und all der anderen vergänglichen Dinge, die die Welt für Reichtum hält.« Der Mönch sprach ein gemessenes, elegantes Englisch mit einem Oxford-Akzent. »Wir sind außerdem die Diener der Bibliothek und der religiösen Gemälde. Den ›Weihrauch‹, den Sie bemerkt haben, produziert das Harz der
dorzhan-qing
-Pflanze. Wir verbrennen es fortwährend, um die Würmer in Schach zu halten; die gefräßigen Holzwürmer, die im Hochhimalaya vorkommen und alles in diesem Raum, das aus Holz, Papier oder Seide ist, zu zerstören trachten.«
Pendergast nickte und betrachtete den Mönch genauer. Er war alt, jedoch drahtig und erstaunlich fit. Sein rot-und-safrangelbes Gewand war fest gewickelt, der Schädel glattrasiert. Die Füße waren nackt und starrten vor Schmutz. Seine Augen blitzten in einem alterslosen Gesicht mit weichen Zügen, das Intelligenz, aber auch Bekümmertheit, ja sogar große Besorgnis verriet.
»Zweifellos fragen Sie sich, wer ich bin und warum ich Sie gebeten habe, herzukommen«, sagte der Mönch. »Ich bin Thubten. Herzlich willkommen, Mr Pendergast.«
»Lama Thubten?«
»Wir hier im inneren Tempel tragen keine Titel.« Er beugte sich vor und spähte Pendergast ins Gesicht. »Wie ich höre, ist es Ihr Beruf – ich weiß nicht recht, wie ich es ausdrücken soll –, sich in die Angelegenheiten anderer Menschen einzumischen, das Recht wiederherzustellen, wenn ein Unrecht geschehen ist? Rätsel zu lösen, Licht in Geheimnisse und ins Dunkel zu bringen?«
»So hat es zwar noch niemand ausgedrückt. Aber ja, so könnte man es nennen.«
Der Mönch lehnte sich sichtlich erleichtert zurück. »Das ist gut. Ich fürchtete fast, mich zu irren.« Beinahe flüsternd setzte er hinzu: »Es gibt hier ein Rätsel.«
Ein langes Schweigen entstand. Schließlich sagte Pendergast: »Sprechen Sie weiter.«
»Der Abt darf nicht über die Sache sprechen. Daher hat man mich darum gebeten. Doch obwohl die Situation sehr ernst ist, finde ich es … schwierig, darüber zu reden.«
»Sie alle hier sind sehr freundlich zu mir und meinem Mündel«, sagte Pendergast. »Ich begrüße die Gelegenheit, mich dafür erkenntlich zeigen zu können – so es denn möglich ist.«
»Das ist sehr freundlich von Ihnen. Vielen Dank. Zu der Geschichte, die ich Ihnen nun gleich erzählen will, gehört auch, dass ich einige Details von geheimer Art enthüllen muss.«
»Sie können auf meine Diskretion zählen.«
»Zunächst möchte ich Ihnen ein wenig von mir erzählen. Ich bin im entlegenen Hügelland um den See Manosawar in Westtibet zur Welt gekommen. Ich war ein Einzelkind, meine Eltern kamen vor meinem ersten Geburtstag bei einem Lawinenunglück ums Leben. Zwei englische Naturliebhaber – ein Ehepaar, das eine ausführliche Erkundungstour durch die Mandschurei, Nepal und Tibet unternahm – erbarmten sich eines so jungen Waisen und adoptierten mich inoffiziell. Zehn Jahre lang blieb ich bei ihnen, während sie beobachtend, zeichnend und Notizen machend durch die Wildnis reisten. Dann überfiel eines Nachts eine Bande vagabundierender Soldaten unser Zelt. Sie erschossen den Mann und die Frau und verbrannten sie mitsamt ihrem ganzen Besitz. Ich allein
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