Pendergast 08 - Darkness - Wettlauf mit der Zeit
seltsam – er besaß gewiss Willenskraft und Geistesschärfe, vielleicht mehr als jeder Westler, den wir kennengelernt haben … das heißt, abgesehen von der Frau. Constance.«
Pendergast nickte. »Woher wissen Sie, dass er es war?«
Der Mönch gab ihm keine direkte Antwort. »Wir möchten, dass Sie den Mann aufspüren, das Agozyen finden und ins Kloster zurückbringen.«
Pendergast nickte. »Dieser Jordan Ambrose – wie hat er ausgesehen?«
Der Mönch griff in sein Gewand und zog eine kleine Pergamentrolle hervor. Er löste die Bänder und entrollte sie. »Unser
thangka
-Maler hat auf mein Ersuchen ein Porträt angefertigt.«
Pendergast nahm die Rolle und betrachtete sie. Sie zeigte einen jungen, sportlichen, gutaussehenden Mann von Ende zwanzig mit langen blonden Haaren und blauen Augen und Gesichtszügen, die körperliche Robustheit, moralische Nonchalance und hohe Intelligenz verrieten. Ein hervorragendes Porträt, das die äußere ebenso wie die innere Person wiedergab.
»Das Gemälde dürfte sehr nützlich sein«, sagte Pendergast, rollte es zusammen und steckte es ein.
»Brauchen Sie irgendwelche weiteren Informationen für Ihre Suche nach dem Agozyen?«, fragte der Mönch.
»Ja. Sagen Sie mir, worum es sich dabei handelt.« Die Miene des Mönches zeigte eine erschreckende Veränderung. Plötzlich wirkte er verschlossen, fast verängstigt. »Das kann ich nicht«, sagte er mit bebender Stimme, so leise, dass er kaum zu verstehen war.
»Es lässt sich nicht vermeiden. Wenn ich dieses Agozyen finden soll, muss ich wissen, was es ist.«
»Sie missverstehen mich. Ich kann Ihnen nicht sagen, was es ist, weil
wir nicht wissen, was es ist
.«
Pendergast runzelte die Stirn. »Wie kann das sein?«
»Seit es vor tausend Jahren unserem Kloster zur sicheren Aufbewahrung anvertraut wurde, befand sich das Agozyen in einem versiegelten Holzkasten. Wir haben ihn niemals geöffnet – das war streng verboten. Er wurde weitergereicht, von Rinpoche zu Rinpoche. Stets versiegelt.«
»Was für eine Art Kasten?« Der Mönch deutete die Ausmaße an, ungefähr fünfzehn mal fünfzehn mal einhundertundzwanzig Zentimeter.
»Das ist eine ungewöhnliche Form. Was könnte Ihrer Ansicht nach in einem Kasten mit solchen Ausmaßen aufbewahrt worden sein?«
»Es kann sich nur um etwas Langes, Dünnes handeln. Einen Stab oder ein Schwert. Eine Schriftrolle oder ein eingerolltes Gemälde. Eine Reihe von Siegeln vielleicht oder Seile mit heiligen Knoten.«
»Was bedeutet der Begriff
Agozyen?
«
Der Mönch zögerte.
»Finsternis.«
»Und warum war es verboten, den Kasten zu öffnen?«
»Der Begründer des Klosters, der erste Ralang Rinpoche, bekam den Kasten von einem heiligen Mann im Osten, aus Indien, geschenkt. Dieser Heilige hatte auf die Seite des Kastens einen Text geschnitzt, der die folgende Warnung enthält. Ich habe hier eine Kopie des Textes, den ich Ihnen übersetzen möchte.« Er zog eine kleine, mit tibetischen Zeichen vollgeschriebene Schriftrolle hervor, hielt sie mit leicht zittrigen Händen auf Armeslänge von sich weg und rezitierte:
Befreien darf niemand das dharma von seinen Ketten
Nur so ist es vor Bösem und Leid zu retten
Damit das Rad der Finsternis auf nimmer sich dreht
Das Siegel des Agozyen auf ewig besteht.
»Das ›dharma‹ bezieht sich auf die Lehren Buddhas?«, fragte Pendergast.
»In diesem Kontext bezeichnet der Begriff etwas noch Größeres – die gesamte Welt.«
»Dunkel und beängstigend.«
»Der Ausdruck ist im Tibetischen genauso rätselhaft. Aber die verwendeten Worte sind sehr machtvoll. Es ist eine starke Warnung, Mr Pendergast – eine sehr starke.«
Pendergast dachte einen Augenblick darüber nach. »Wie konnte ein Außenstehender denn genug über den Kasten wissen, dass er ihn stahl? Ich habe ein ganzes Jahr hier verbracht und nie davon gehört.«
»Das ist ein großes Rätsel. Sicherlich hat keiner unserer Mönche jemals von dem Objekt gesprochen. Wir leben in größter Angst vor ihm und sprechen nie davon, nicht einmal untereinander.«
»Dieser Bursche, Ambrose, hätte mühelos Edelsteine im Wert von Millionen scheffeln können. Jeder gewöhnliche Dieb hätte zunächst das Gold und die Juwelen mitgehen lassen.«
»Vielleicht«, sagte der Mönch nach kurzem Zögern, »ist er ja kein gewöhnlicher Dieb. Gold, Edelsteine … Sie sprechen von irdischen Gütern.
Vergänglichen
Schätzen. Das Agozyen hingegen …«
»Ja?«
Aber der alte Mönch breitete nur die
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