Pendergast 08 - Darkness - Wettlauf mit der Zeit
fast hundert Jahre alt und ein wegen seiner einzigartigen Gabe der Weissagung berühmtes Orakel war.
Der Mönch tippte mit dem Fingernagel zweimal auf den Stein. Sie warteten. Nach einer Minute begann sich ein loser Stein im Mauerwerk zu bewegen, ganz leise kratzte er langsam über die Fuge. Eine welke Hand, weiß wie Schnee mit bläulich durchschimmernden Venen, kam zum Vorschein. Sie kippte den Stein auf die Seite, wodurch ein Spalt in der Mauer entstand.
Der Mönch beugte sich zu der Lücke im Mauerwerk vor und murmelte eine leise Bemerkung. Dann horchte er. Minuten verstrichen, in denen Pendergast von drinnen ein leises Flüstern vernahm. Der Mönch richtete sich auf, offenbar zufrieden, und gab ihm ein Zeichen, näher zu treten. Er tat, wie ihm geheißen, und sah, wie der Stein in seine ursprüngliche Stellung zurückglitt.
Mit einem Mal drang aus dem Fels neben der gemauerten Kammer ein dumpfer, kratzender Laut; ein Spalt öffnete sich. Er verbreiterte sich zu einer steinernen Tür, die von irgendeinem unsichtbaren Mechanismus bewegt wurde. Ein ungewöhnlicher Duft, dem Weihrauch verwandt, drang aus dem Inneren. Der Mönch streckte die Hand aus, eine Geste, die Pendergast zum Eintreten aufforderte; als dieser die Schwelle übertreten hatte, glitt die Tür hinter ihm zu. Der Mönch war ihm nicht gefolgt – Pendergast war allein.
Ein weiterer Mönch tauchte mit einer blakenden Kerze in der Hand aus dem Dunkel auf. Während der vergangenen sieben Wochen in Gsalrig Chongg, wie auch bei seinen vorherigen Besuchen, hatte Pendergast alle Mönche kennengelernt – doch dieses Gesicht war ihm neu. Also hatte er soeben das innere Kloster betreten, von dem zwar hinter vorgehaltener Hand geflüstert wurde, dessen Existenz aber niemals bestätigt worden war. Er war im Allerheiligsten. Der Zutritt war niemandem gestattet und wurde offenbar von dem eingemauerten Anachoreten bewacht, so viel hatte Pendergast begriffen. Es handelte sich um ein Kloster im Kloster, in dem ein halbes Dutzend Mönche ihr ganzes Leben in tiefster Meditation und nicht enden wollendem geistigen Studium verbrachte. Die Männer sahen niemals die Außenwelt, noch kamen sie mit den Mönchen des äußeren Klosters in Kontakt. Sie hatten sich so sehr aus der Welt zurückgezogen, wie Pendergast einmal zufällig gehört hatte, dass Sonnenlicht auf ihrer Haut sie bereits töten konnte.
Er folgte dem seltsamen Mönch einen schmalen Gang hinunter, der in die tiefsten Bereiche der Klosteranlage führte. Der Gang wurde schmaler, und Pendergast erkannte, dass es sich dabei um einen Tunnel handelte, der aus dem Felsen geschlagen und vor tausend Jahren verputzt und bemalt worden war. Rauch, Feuchtigkeit und die Zeit hatten die Fresken inzwischen fast verbleichen lassen. Der Gang machte eine Biegung nach der anderen, führte an kleinen Felsnischen mit Buddha- und
thangka
-Gemälden vorbei, die von Kerzen erhellt und von Weihrauchschwaden erfüllt waren. Sie begegneten niemandem, sahen keinen Menschen – die fensterlosen Räume und Tunnel wirkten leer, klamm und verlassen.
Schließlich, nach einer scheinbar endlosen Strecke, gelangten sie wieder an eine Tür, deren geölte Eisenplatten dick vernietet waren. Noch ein Schlüssel wurde hervorgeholt, die Tür mit einiger Mühe entriegelt und geöffnet.
Der Raum war klein, eine einzelne Butterlampe spendete ein mattes Licht. Die Wände waren mit altem, von Hand poliertem Holz verkleidet und sorgfältig intarsiert. Süßlicher Rauch durchzog stechend und harzig die Luft. Pendergast brauchte einen Moment, um zu erkennen, dass die Kammer mit Schätzen angefüllt war. Vor der gegenüberliegenden Wand stand ein Dutzend Schatullen aus schwerem getriebenem Gold, die Deckel fest verschlossen; daneben stapelten sich Ledertaschen, einige vermodert und an den Nähten aufgeplatzt, so dass ihr Inhalt zum Vorschein kam: Goldmünzen – von altenglischen Sovereigns und griechischen Drachmen bis zu schweren indischen Goldmünzen aus dem Mughal-Reich. Kleine Holzfässchen waren drumherum aufgeschichtet worden, die Dauben geschwollen und verrottet, aus denen sich rohe und geschliffene Rubine, Saphire, Diamanten, Türkise, Turmaline und Peridots ergossen. Andere waren offenbar mit kleinen Goldbarren und ovalen altjapanischen Kobans gefüllt.
Die Wand zu seiner Rechten beherbergte eine andere Art Schatz: Schalmeien und Hörner aus Ebenholz, Elfenbein und Gold, besetzt mit Edelsteinen;
dorje
-Glocken aus Silber und Elektrum;
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