Pendergast 08 - Darkness - Wettlauf mit der Zeit
stand er, wenn er auch den Anschein erweckte, als könnte der kleinste Lufthauch ihn zu Boden strecken. Er lachte immer noch so sehr, dass sein rosa Gaumen zu sehen war, als er leise und keuchend zu sprechen anhub. Selbst seine Knochen schienen vor Heiterkeit zu klappern.
»Zufall? So etwas gibt es nicht. Schülerin macht guten Witz«, übersetzte Tsering. »Der Abt mag guten Witz.«
Constance blickte zu Tsering, dann zum Abt und wieder zu Tsering. »Heißt das, dass ich hier studieren darf?«
»Es heißt, dass dein Studium bereits begonnen hat«, sagte Tsering und lächelte.
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2
In einem der abseits gelegenen Pavillons des Klosters Gsalrig Chongg saß Aloysius Pendergast auf einer Bank neben Constance Greene. Eine Reihe von Steinfenstern ging zur Schlucht des Llölung hinaus. Von hier aus konnte man bis zu den mächtigen Gipfeln des Himalaya sehen, die in ein zart rosafarbenes Abendrot getaucht waren. Von unten drang das leise Rauschen des Wasserfalls am Eingang des Llölung-Tales herauf. Während die Sonne hinter dem Horizont versank, erklang eine
dzung
-Trompete: ein tiefer, langgezogener Laut, der von den Schluchten und Bergen widerhallte.
Fast zwei Monate waren vergangen. Es war Juli und somit Frühjahr in den hohen Vorbergen des Himalaya. Die Talböden waren grün und mit Wildblumen gesprenkelt. Auf den Berghängen blühten rosafarbene Wildrosen.
Die beiden saßen schweigend da. Noch zwei Wochen, dann ging ihr Aufenthalt hier zu Ende.
Wieder ertönte die
dzung
, und das feuerrote Licht auf den Gipfeln von Dhaulagiri, Annapurna und Manaslu, drei der zehn höchsten Berge der Welt, verglühte. Die Abenddämmerung fiel rasch, drang in die Täler wie eine Flut dunklen Wassers.
Pendergast erhob sich. »Deine Studien verlaufen gut. Äußerst gut. Der Abt ist hochzufrieden.«
»Ja.« Ihre Stimme klang leise, fast distanziert.
Er legte eine Hand auf ihre; die Berührung war so leicht und luftig wie die eines Blattes. »Wir haben noch nie darüber gesprochen, aber ich wollte dich fragen, ob … in der Feversham-Klinik alles gutgegangen ist. Ob die, ähm, Prozedur ohne Komplikationen verlaufen ist.« Pendergast wirkte geradezu schüchtern und um Worte verlegen, was untypisch für ihn war.
Constance blickte weiter auf die kalten, schneebedeckten Berge.
Er zögerte. »Ich wünschte, ich hätte bei dir sein dürfen.«
Sie senkte den Kopf, schwieg aber weiter.
»Constance, du liegst mir so sehr am Herzen. Vielleicht habe ich das nicht deutlich genug gemacht. Dafür entschuldige ich mich.«
Errötend beugte Constance den Kopf noch tiefer. »Danke.« Die Distanziertheit in ihrer Stimme wich einem leichten Tremolo. Sie erhob sich jäh und wandte den Blick ab.
Er stand ebenfalls auf.
»Verzeih, Aloysius, aber ich möchte eine Weile allein sein.«
»Natürlich.« Pendergast sah ihr nach, bis ihre schlanke Gestalt, einem Geist gleich, in den steinernen Gängen des Klosters verschwand. Dann wandte er den Blick der Berglandschaft hinter dem Fenster zu und verlor sich in seinen Gedanken.
Während die Dunkelheit den Pavillon erfüllte, verklangen die Laute der
dzung
; sekundenlang hallte die letzte Note einem Echo gleich zwischen den Felswänden wider. Alles war still, als habe die heranbrechende Nacht eine Art Starre mit sich gebracht. Und dann erschien in den tiefsten Schatten unterhalb des Pavillons eine Gestalt: Es war ein alter Mönch in safrangelbem Gewand. Mit seiner welken Hand gab er Pendergast ein Zeichen; es war jenes eigentümliche tibetische Schütteln des Handgelenks, das
Komm mit!
bedeutet.
Langsam ging Pendergast dem Mönch entgegen. Dieser wandte sich um und huschte ins Dunkel.
Fasziniert folgte Pendergast dem Mönch, der ihn in eine unerwartete Richtung führte, über schwach erleuchtete Gänge bis zu jener Zelle, in welcher der berühmte Anachoret lebte. Dieser Mönch hatte sich angeblich bereits als Zwölfjähriger aus freien Stücken in einer Kammer einmauern lassen, die gerade groß genug war, dass ein Mensch darin sitzen und meditieren konnte; sein ganzes Leben verbrachte er in dieser Zelle. Einmal am Tag versorgten ihn seine Brüder mit Brot und Wasser, das ihm durch eine Lücke im Mauerwerk zugeschoben wurde.
Der Mönch blieb vor der Zelle stehen. Sie war nichts Besonderes, nur eine unauffällige dunkle Mauer, deren Steine von Tausenden von Händen blankpoliert worden waren. Unzählige Menschen waren gekommen, um von diesem besonderen Anachoreten Weisheit zu erbitten, der inzwischen
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