Pendergast 09 - Cult - Spiel der Toten
zurück – und ein penibel gemachtes Bett kam zum Vorschein. »Sehen Sie? Es war nur ein Traum.«
Nora legte sich zurück, ihre Glieder wurden schwer. Es war doch nicht Realität gewesen.
Die Schwester beugte sich über sie, strich die Bettdecke glatt und deckte sie fester zu. Verschwommen sah Nora, wie die zweite Schwester eine neue Flasche mit einer Nährlösung an den Infusionsständer hängte und den Schlauch wieder anbrachte. Alles schien in weite Ferne zu entschwinden. Nora war müde, so müde. Natürlich war es ein Traum gewesen. Und plötzlich interessierte sie das alles nicht mehr, sondern sie fand ihn herrlich, diesen Zustand, wenn einem alles egal ist …
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6
Vincent D’Agosta blieb vor der offenen Tür von Nora Kellys Krankenhauszimmer stehen und klopfte zaghaft an. Das Licht der Morgensonne strömte den Flur hinunter und tauchte die metallisch schimmernden medizinischen Geräte, die an den gekachelten Wänden aufgereiht standen, in ein goldenes Licht.
Er hatte nicht damit gerechnet, dass ihm eine so kräftige Stimme antworten würde. »Herein.«
Er trat ein und fühlte sich unbehaglich, legte seinen Hut auf den einzigen Stuhl, musste ihn dann wieder in die Hand nehmen, um sich setzen zu können. Er hatte so etwas noch nie gut gekonnt. Er betrachtete sie etwas zögernd und wunderte sich über das, was er sah. Statt einer verletzten, verzweifelten, trauernden Witwe saß da eine Frau vor ihm, die erstaunlich gefasst wirkte. Ihre Augen waren rotgerändert, blickten aber klar und entschlossen. Ein Verband, der einen Teil ihres Kopfs bedeckte, und eine leicht bläuliche Verfärbung unter dem rechten Auge waren die einzigen Anzeichen der Attacke zwei Tage zuvor.
»Nora, es tut mir leid, so
verdammt
leid …« Er stockte.
»Bill hat Sie als guten Freund betrachtet.« Sie sprach langsam und mit Bedacht, als wüsste sie irgendwie, was gesagt werden musste, ohne im Grunde etwas davon zu begreifen.
Pause. »Wie geht es Ihnen?« Dabei wusste er, noch während er das sagte, wie lahm die Frage klang.
Nora schüttelte nur den Kopf und gab die Frage zurück. »Und wie geht es
Ihnen?
«
D’Agosta antwortete ehrlich. »Beschissen.«
»Bill hätte sich darüber gefreut, dass Sie … das hier übernehmen.«
Er nickte.
»Gegen Mittag kommt der Arzt, und wenn alles in Ordnung ist, werde ich entlassen.«
»Nora, es gibt da etwas, das Sie wissen müssen: Wir werden diesen Scheißkerl finden. Wir werden ihn finden und einsperren und den Schlüssel wegwerfen.«
Sie gab ihm keine Antwort darauf.
Er rieb sich mit der Hand über die kahle Stelle auf dem Kopf. »Und zu diesem Zweck werde ich Ihnen noch einige weitere Fragen stellen müssen.«
»Nur zu. Reden … Reden hilft tatsächlich.«
»Gut.« Er zögerte. »Sind Sie sich sicher, dass es Colin Fearing war?«
Sie blickte ihm fest in die Augen. »So sicher, wie ich hier liege, in diesem Moment, in diesem Bett. Es war Fearing, garantiert.«
»Wie gut kannten Sie ihn?«
»Er hat mich des Öfteren angegafft, in der Lobby. Einmal hat er mich um ein Date gebeten – obwohl er wusste, dass ich verheiratet bin.« Sie schüttelte sich. »Ein echtes Schwein.«
»Hatten Sie irgendwie den Eindruck, dass er psychisch labil ist?«
»Nein.«
»Erzählen Sie doch mal, wie er Sie, äh, um ein Date gebeten hat.«
»Wir sind zufällig in den gleichen Fahrstuhl gestiegen. Er hat sich zu mir umgedreht, mit den Händen in den Hosentaschen, und mich in seinem schnöseligen britischen Akzent gefragt, ob ich mit zu ihm in die Wohnung kommen und mir seine
Stiche
ansehen möchte.«
»Das hat er wirklich gesagt? Stiche?«
»Er hat das wohl für witzig gehalten.«
D’Agosta schüttelte den Kopf. »Haben Sie ihn in den, sagen wir, letzten zwei Wochen gesehen?«
Nora antwortete nicht gleich. Offenbar fiel es ihr schwer, sich zu erinnern, und D’Agosta empfand Mitleid mit ihr. »Nein. Warum fragen Sie?«
Er war noch nicht so weit, sie darauf anzusprechen. »Hatte er eine Freundin?«
»Nicht, dass ich wüsste.«
»Haben Sie mal Fearings Schwester kennengelernt?«
»Ich wusste nicht einmal, dass er eine Schwester hat.«
»Hatte er gute Freunde? Andere Verwandte?«
»Um das sagen zu können, kannte ich ihn nicht gut genug. Er hat auf mich ein bisschen wie ein Einzelgänger gewirkt. Er hatte keinen geregelten Tagesablauf, er war eben so ein Schauspielertyp, hat fürs Theater gearbeitet.«
D’Agosta blickte auf seinen Notizblock, auf den er einige Routinefragen
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