Pendergast 09 - Cult - Spiel der Toten
Unfähigkeit gegenübergesehen?
Mit einem verzagten Seufzer senkte er das Funkgerät und sah zu, wie die Menschenmenge, die aus dem Ville kam, erst zu einem Strom, dann zu einer Flut anschwoll.
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Pendergast ging durch den Tunnelgang, hielt sich dabei eng an der linken Wand und schirmte den schmalen Lichtschein der Lampe sorgfältig ab. Als er um eine Biegung kam, erspähte er etwas in dem trüben Licht – ein längliches, weißliches Objekt, das auf dem Boden lag.
Er ging darauf zu. Es handelte sich um einen stabilen Plastiksack mit einem Reißverschluss an der einen Seite, verschmiert mit Schlamm, Dreck und Gras, als sei er über den Boden geschleift worden. Aufgedruckt waren die Worte
Leichenschauhaus der Stadt New York
sowie eine Zahl.
Er kniete sich hin und griff nach dem Reißverschluss. Langsam zog er ihn auf, möglichst leise. Ein überwältigender Gestank nach Formalin, Alkohol und Zersetzung schlug ihm entgegen. Zentimeter um Zentimeter kam die Leiche darin zum Vorschein. Er zog den Reißverschluss auf, bis der Sack halb offen war, ergriff die Kanten des Plastiksacks und zog sie auseinander, wodurch das Gesicht zum Vorschein kam.
William Smithback jr.
Lange starrte Pendergast auf das Gesicht. Dann zog er mit fast ehrfürchtiger Sorgfalt den Reißverschluss ganz auf, so dass der gesamte Leichnam zu sehen war. Er befand sich im übelsten Zustand der Verwesung. Smithbacks Leiche war obduziert und dann am Tag, bevor sie verschwand, wieder zusammengeflickt worden, damit sie der Familie überführt werden konnte. Die Organe waren wieder hineingelegt worden, der Y-Schnitt zugenäht, das Schädeldach wieder aufgesetzt, die Kopfhaut wieder darübergezogen und fest vernäht, das Gesicht repariert, alles vollgepackt und ausgestopft. Grob ausgeführt – Feinarbeiten gehörten nicht zu den Stärken von Pathologen –, aber ein guter Bestattungsunternehmer könnte zumindest damit arbeiten.
Nur: Die Leiche war nie in einem Bestattungsunternehmen angekommen. Sie war gestohlen worden. Und jetzt war sie hier.
Plötzlich sah Pendergast genauer hin. Er griff in die Tasche seiner Anzugjacke, holte eine Pinzette hervor und pflückte damit ein paar Stückchen weißes Latexgummi ab, die auf dem Gesicht der Leiche klebten, eines von einem Nasenflügel, eines von einem Ohrläppchen. Er untersuchte sie eingehender mit seiner Lampe und steckte sie dann nachdenklich ein.
Als er mit der Lampe langsam herumleuchtete, sah er fünfzehn Meter entfernt noch eine verwesende Leiche, schick gemacht und bekleidet für eine Beisetzung im schwarzen Anzug. Eine unbekannte Person, aber groß und schlaksig, ungefähr genauso groß und mit der gleichen Statur wie Smithback und Fearing.
Und während er die beiden Leichen betrachtete, rückten in seinem Kopf die letzten Details von Estebans Plan zusammen. Der Plan war außerordentlich elegant. Jetzt blieb nur noch eine Frage: Was stand in dem Dokument, das Esteban aus dem Grab gestohlen hatte? Es musste etwas wahrhaft Außergewöhnliches, etwas von immensem Wert sein, dass ein Mann ein solches Risiko einging. Vorsichtig und leise schloss Pendergast den Reißverschluss. Er war verdutzt, nicht nur, weil Estebans Plan so komplex, sondern auch so tollkühn war. Nur ein Mann von besonderer Begabung und Geduld, mit einer strategischen Vision und echter Klasse konnte so etwas zustande bringen. Und er hatte es hinbekommen. Wäre Pendergast nicht zufällig auf das geplünderte Grab im Kellergeschoss des Ville gestoßen und hätte er diesen Fund nicht mit der blutigen Verpackung eines Premium-Lammrückens im Müll kombiniert, dann wäre Esteban ungeschoren davongekommen.
Im Dunkel dachte Pendergast angestrengt nach. Weil er mit dem Boot so gerast war, damit er möglichst schnell hierherkam, um Nora zu retten, hatte er nicht im Einzelnen bedacht, wie er mit Esteban zu Rande kommen sollte. Nun wurde ihm klar, dass er den Mann unterschätzt hatte – Esteban war ein ernstzunehmender Gegner. Die Entfernung mit dem Wagen von Inwood nach Glen Cove war nicht sehr groß, deshalb war er inzwischen sicherlich nach Hause zurückgekehrt. Ein solcher Mann würde wissen, dass auch Pendergast hier war. Er würde einen Plan verfolgen und auf Pendergast warten. Aber er musste die Erwartungen des Mannes enttäuschen. Er musste aus einer – ganz wörtlich – unerwarteten Richtung zuschlagen.
Vorsichtig und geräuschlos zog er sich aus dem Tunnelgang zurück, auf demselben Weg, den er gekommen
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