Pendergast 10 - Fever - Schatten der Vergangenheit
Helen dich kennenlernte, hatte sie … eine unglückliche Liebesbeziehung. Mit einem richtigen Hallodri.«
»Erzähl weiter.«
»Es war im ersten Jahr nach dem Grundstudium, glaube ich. Sie hat diesen jungen Burschen vom MIT übers Wochenende mit nach Hause gebracht. Blond, gepflegt, blaue Augen, großgewachsen und sportlich, schien dauernd in langen Tennishosen und Pullovern mit Vereinswappen herumzulaufen. Er stammte aus einer wohlhabenden alten Einwandererfamilie, wuchs in Manhattan auf, die Eltern hatten ein Sommerhaus auf Fishers Island, er redete davon, ins Investmentbanking zu gehen – du kennst ja den Typus.«
»Warum war die Beziehung unglücklich?«
»Wie sich herausstellte, hatte er irgendeine Art sexuelles Problem. Helen hat sich zwar nie klar geäußert, aber es ging da wohl um irgendein perverses oder grausames Verhalten auf dem Gebiet.«
»Und?«
»Sie hat ihn verlassen. Er hat sie danach noch eine Zeitlang belästigt, Anrufe, Briefe. Ich glaube aber nicht, dass das bis zum Stalking ging. Und dann schien das alles auf einmal aufzuhören.« Er wedelte mit der Hand. »Das war sechs Jahre, bevor ihr euch kennengelernt habt, und neun Jahre vor ihrem Tod. Ich sehe nicht, dass diese Beziehung etwas mit ihrem Tod zu tun haben könnte.«
»Und der Name des Burschen?«
Esterhazy legte die Hände an den Kopf. »Adam … Adam, das war sein Vorname. Aber an seinen Nachnamen kann ich mich nicht mehr erinnern … wenn ich ihn denn überhaupt je gekannt habe.«
Langes Schweigen. »Sonst noch etwas?«
Esterhazy schüttelte den Kopf. »Es ist mir ein Rätsel, warum jemand auf die Idee kommen sollte, Helen weh zu tun.«
Kurzes Schweigen. Mit einem Nicken wies Pendergast auf einen gerahmten Kupferstich an einer Wand: eine Schneeeule auf einem Baum sitzend bei Nacht, verblichen. »Das ist ein Audubon, nicht wahr?«
»Ja. Leider nur eine Reproduktion.« Esterhazy warf einen Blick darauf. »Komisch, dass du das erwähnst.«
»Warum?«
»Das Bild hing in Helens Kinderzimmer. Sie hat mir erzählt, dass sie, wenn sie krank war, stundenlang darauf gestarrt hat, ohne Unterbrechung. Audubon hat sie fasziniert. Aber das weißt du natürlich alles«, schloss er rasch. »Ich habe das Bild behalten, weil es mich an sie erinnert.«
D’Agosta sah in Pendergasts Zügen einen leisen Ausdruck der Verwunderung, den er aber rasch verbarg.
Nach kurzem Schweigen sagte Pendergast: »Gibt es irgendetwas, was du noch über Helens Leben, unmittelbar bevor ich sie kennenlernte, erzählen kannst?«
»Sie hat sich in ihrer Arbeit sehr engagiert. Es gab auch eine Zeit, als sie begeistert Freeclimbing betrieben hat. Sie war fast jedes Wochenende in den Gunks.«
»Den Gunks?«
»Den Shawangunk-Bergen. Sie lebte damals eine Zeitlang in New York. Ist viel herumgereist. Teilweise natürlich für Doctors With Wings – Burundi, Indien, Äthiopien. Aber teilweise auch um des Abenteuers willen. Ich weiß noch, wie ich sie eines Nachmittags zufällig traf, vor fünfzehn, sechzehn Jahren. Sie war ganz aufgeregt am Packen und wollte gerade – ausgerechnet – nach New Madrid fahren.«
»New Madrid?«, fragte Pendergast
»New Madrid in Missouri. Sie wollte mir nicht verraten, warum sie dort hinwollte, und sagte, ich würde sie nur auslachen. Sie konnte auf ihre Art eine sehr verschlossene Person sein. Aber das weißt du sicher besser als jeder andere, Aloysius.«
Wieder warf D’Agosta Pendergast einen verstohlenen Blick zu.
Und damit wären’s zwei,
dachte er. Er kannte niemanden, der verschlossener war, dem es mehr widerstrebte, andere an seinen Gedanken teilhaben zu lassen, als Pendergast.
»Ich wünschte, ich hätte dir mehr helfen können. Wenn mir der Nachname dieses früheren Freundes einfällt, sage ich dir Bescheid.«
Pendergast erhob sich. »Danke, Judson. Es war sehr freundlich von dir, so lange mit uns zu sprechen. Und entschuldige bitte, dass du die Wahrheit auf diese Art erfahren hast. Ich fürchte, es war – na ja, ich hatte einfach nicht die Zeit, sie dir schonender beizubringen.«
»Ich kann dich gut verstehen.«
Esterhazy ging durch den Flur in die Eingangsdiele. »Warte«, begann er, dann zögerte er an der halbgeöffneten Tür. Einen Augenblick ließ er die Maske des stoischen Zorns fallen, und D’Agosta sah, dass ganz unterschiedliche Gefühle seine attraktiven Gesichtszüge entstellten. Aber was für welche? Blanke Wut? Angst? Seelische Verwüstung? »Du hast ja gehört, was ich vorhin gesagt habe.
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