Pendergast 10 - Fever - Schatten der Vergangenheit
getaucht war, wirkte sein Gesicht beinahe gespenstisch weiß. »Als ich das kleine Museum betrat, habe ich auf der anderen Seite des Raums eine junge Frau gesehen, die zu mir herüberschaute.«
»Liebe auf den ersten Blick?«, fragte D’Agosta.
Das geisterhafte Lächeln kehrte zurück. »Es war, als wäre die Welt plötzlich verschwunden, als würde niemand sonst existieren. Sie war absolut zauberhaft. Ganz in Weiß gekleidet. Ihre Augen waren so blau, dass es an indigofarben grenzte, durchsetzt mit kleinen violetten Pünktchen. Höchst ungewöhnlich. Mehr noch: meiner Erfahrung nach einzigartig. Sie kam geradewegs zu mir herüber, stellte sich vor und fasste meine Hand, noch ehe ich meine Fassung wiedergewann …« Er stockte. »Helen kannte keine Schüchternheit, sie war der einzige Mensch, dem ich völlig vertraut habe.«
Pendergasts Stimme klang belegt, dann riss er sich zusammen. »Außer Ihnen, mein lieber Vincent.«
D’Agosta war erstaunt, plötzlich auf diese Weise gelobt zu werden. »Danke.«
»Was für einen schwelgerischen Unsinn ich da rede«, sagte Pendergast rasch. »Die Antworten liegen in der Vergangenheit, aber wir dürfen uns nicht in ihr verlieren. Wie dem auch sei: Ich glaube, es war wichtig für uns – für uns
beide
–, dass wir an diesem Ort angefangen haben.«
»Angefangen?«, wiederholte D’Agosta. Dann drehte er sich um. »Sagen Sie mal, Pendergast –«
»Ja?«
»Apropos Vergangenheit, es gibt da etwas, was ich mich schon die ganze Zeit frage. Warum haben die – wer immer sie sind – sich eigentlich die ganze Mühe gemacht?«
»Ich bin mir nicht ganz sicher, ob ich Ihnen folgen kann.«
»Den dressierten Löwen erwerben. Den Tod des deutschen Fotografen herbeiführen, um Sie und Helen in das Camp zu locken. Diese vielen Leute bestechen. Das hat doch enorm viel Geld und Zeit gekostet. Das ist doch ein enorm komplizierter Plan. Warum nicht einfach eine Entführung oder einen Autounfall hier unten in New Orleans inszenieren? Ich meine, das wäre doch der leichtere Weg …« Er brach ab.
Einen Augeblick schwieg Pendergast. Dann nickte er langsam. »Sie haben recht. Es ist eine höchst merkwürdige Vorgehensweise. Aber vergessen Sie nicht, unser Freund Wisley hat gesagt, dass es sich bei einem der Verschwörer, die er belauscht hat, um einen Deutschen handelte. Und dieser Tourist, den der Löwe als Ersten tötete, war ebenfalls Deutscher. Vielleicht war der erste Mord ja mehr als nur ein Ablenkungsmanöver.«
»Das habe ich nicht bedacht«, sagte D’Agosta.
»Wenn dem so ist, würde das die Ausgaben und Anstrengungen eher rechtfertigen. Aber behalten wir diesen Gedanken einstweilen im Kopf. Ich bin überzeugt, dass unser erster Schritt darin bestehen muss, mehr über Helen selbst herauszufinden – wenn das denn möglich ist.« Er griff in die Außentasche seines Jacketts, zog ein gefaltetes Blatt Papier heraus und reichte es D’Agosta.
D’Agosta faltete es auseinander. Eine Adresse, verfasst in Pendergasts eleganter Schrift:
214 Mechanic Street
Rockland, Maine
»Was ist das?«, fragte D’Agosta.
»Die Vergangenheit. Dort ist Helen aufgewachsen. Das ist Ihre nächste Aufgabe, Vincent. Meine eigene liegt hier.«
14
Penumbra-Plantage
»Möchten Sie noch einen Tee, Sir?«
»Nein, danke, Maurice.« Pendergast betrachtete die Reste seines frühen Abendessens – Bohnen-Mais-Eintopf, Erbsen und Schinken mit Redeye-Sauce – mit so viel Wohlgefallen, wie er aufzubringen vermochte. Draußen vor den hohen Fenstern des Esszimmers dämmerte es zwischen den Hemlocktannen und Zypressen, während irgendwo in den Schatten eine Spottdrossel ihr langes, kompliziertes Lied sang.
Pendergast betupfte sich mit einer weißen Leinenserviette die Mundwinkel und stand vom Tisch auf. »Jetzt, wo ich gegessen habe, frage ich mich, ob ich wohl das Schreiben sehen könnte, das heute Nachmittag für mich gekommen ist.«
»Gewiss, Sir.« Maurice verließ das Speisezimmer, betrat die Eingangshalle und kehrte kurz darauf mit einem Brief zurück. Er war ziemlich verknittert und mehr als einmal neu adressiert worden. Nach dem Poststempel zu urteilen, hatte es fast drei Wochen gedauert, bis er zugestellt worden war. Selbst wenn er die elegante, altmodische Handschrift nicht erkannt hätte, die chinesischen Briefmarken hätten dennoch auf den Absender hingewiesen: Constance Greene, sein Mündel, das derzeit mit seinem kleinen Söhnchen in einem abgelegenen Kloster in Tibet wohnte.
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