Pendergast 10 - Fever - Schatten der Vergangenheit
Tavern
aufgemacht, eine Kneipe am Hafen, die – wie man ihm mitgeteilt hatte – von den ältesten der alten Fischer frequentiert wurde. Wie sich herausstellte, handelte es sich um ein schäbiges, mit Schindeln gedecktes Gebäude zwischen zwei Lagerhäusern am landseitigen Ende des Fischereihafens. Ein Gewitter kam schnell näher, ein paar Schneeflocken wirbelten bereits von See an Land, und der Wind peitschte die Gischt von den Wellen und wehte herrenlose Zeitungen über den felsigen Strand. Warum zum Teufel bin ich überhaupt hier?, fragte sich D’Agosta. Aber er kannte ja den Grund, Pendergast hatte es ihm erklärt.
Ich fürchte, Sie müssen dorthin,
hatte er gesagt.
Mir ist die Angelegenheit zu nahe. Mir fehlt die erforderliche investigative Distanz und Objektivität.
In der Bar war es dunkel, die stickige Luft roch nach Tiefkühlfisch und abgestandenem Bier. Nachdem sich D’Agostas Augen an die Schummerbeleuchtung gewöhnt hatten, bemerkte er, dass die Anwesenden – der Barkeeper und vier mit Cabanjacken oder Südwestern bekleidete Gäste – ihre Gespräche unterbrochen hatten und ihn anstarrten. Es war sichtlich eine Kneipe, in der nur Stammkunden verkehrten. Aber wenigstens war es trocken hier drin, und der Bollerofen strahlte eine wohlige Wärme aus.
D’Agosta nahm am Ende der Theke Platz, nickte dem Barkeeper zu und bestellte ein Budweiser. Er benahm sich betont unauffällig, und so kam das Gespräch allmählich wieder in Gang. Bald hatte er herausgefunden, dass es sich bei allen vier Gästen um Fischer handelte; dass die Fischerei derzeit nichts einbrachte; dass die Fischerei streng genommen noch nie was eingebracht hatte.
D’Agosta sah sich in der Bar um und trank sein Bier in kleinen Schlucken. Die Einrichtung war, kaum erstaunlich, alt, vorherrschend waren nautische Motive. An den Wänden hingen Haigebisse, riesige Hummerscheren und Fotos von Fischerbooten, von der Decke baumelten Netze mit Kugeln aus farbigem Glas. Auf jeder Oberfläche lag eine dicke Patina aus Altersabnutzung, Zigarettenqualm und Staub.
D’Agosta trank sein Bier und dann noch eins, bevor er sich sagte, dass es an der Zeit war, in Aktion zu treten. »Mike.« Er redete den Barkeeper beim Vornamen an, den er vorher dem Gespräch entnommen hatte. »Ich möchte eine Lokalrunde ausgeben. Und trinken Sie doch eins mit.«
Einen Augenblick sah Mike ihn entgeistert an, dann nahm er mit einem unwirsch gemurmelten Danke die Bestellung an. Die Gäste nickten und bedankten sich brummelnd; die Biere wurden ausgeteilt.
D’Agosta trank einen großen Schluck. Es war wichtig, wie ein ganz normaler Typ zu wirken. Was im
Salty Dog
bedeutete, trinkfest zu sein. Er räusperte sich. »Ich hab mich gefragt«, sagte er, »ob einer von euch mir vielleicht helfen könnte.«
Die Männer erwiderten seinen Blick, manche neugierig, andere argwöhnisch. »Helfen wobei?«, fragte ein grauhaariger Mann, den die anderen mit Hector angeredet hatten.
»Früher hat hier in der Gegend mal eine Familie gelebt. Die Esterhazys. Ich versuche, Angehörige ausfindig zu machen.«
»Wie heißen Sie eigentlich, Mister?«, fragte einer der Fischer, Ned mit Namen. Er war ungefähr einen Meter fünfundsechzig groß, hatte ein wind- und wettergegerbtes Gesicht und Unterarme dick wie Telefonmasten.
»Martinelli.«
»Sind Sie ein Bulle?«, fragte Ned stirnrunzelnd.
D’Agosta schüttelte den Kopf. »Privatermittler. Es geht um eine Erbschaft.«
»Eine Erbschaft?«
»Es ist da ziemlich viel Geld im Spiel. Die Treuhänder haben mich eingestellt, damit ich eventuell noch lebende Esterhazys aufspüre. Wenn ich sie nicht finde, kann das Erbe nicht an sie ausgezahlt werden.«
Eine Minute herrschte Stille in der Bar, während die Gäste seine Antwort verarbeiteten. Mehr als ein Augenpaar hellte sich bei der Erwähnung von Geld auf.
»Mike, noch eine Runde, bitte.« D’Agosta trank einen großzügigen Schluck von seinem schaumigen Bier. »Die Treuhänder haben außerdem ein kleines Honorar für diejenigen ausgelobt, die dabei helfen, überlebende Familienangehörige zu finden.«
D’Agosta bemerkte, dass die Fischer einander ansahen, dann wieder ihn anschauten. »Also, kann mir jemand hier irgendwas erzählen?«
»Es gibt in der Stadt keine Esterhazys mehr«, sagte Ned.
»Es gibt in der ganzen Gegend hier keine Esterhazys mehr«, sagte Hector. »Und das kann auch gar nicht anders sein – nicht nach dem, was passiert ist.«
»Und was war das?«, fragte
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