Pendergast 10 - Fever - Schatten der Vergangenheit
Pendergast schlitzte den Umschlag mit seinem Messer auf, zog den einzelnen Briefbogen hervor und las.
Lieber Aloysius,
ich weiß nicht genau, in welchen Schwierigkeiten Du steckst, aber in meinen Träumen sehe ich, dass Du in großer Not bist – oder sein wirst. Das tut mir sehr leid. Was Fliegen sind den müß’gen Knaben, das sind wir den Göttern; sie töten uns zum Spaß.
Ich werde bald nach Hause kommen. Versuche, ruhig zu sein, alles ist unter Kontrolle. Und was es nicht ist, wird es bald sein.
Wisse, dass Du in meinen Gedanken bist. Und auch in meinen Gebeten – oder es wärst, wenn ich beten würde.
Constance
Stirnrunzelnd las Pendergast den Brief noch einmal.
»Stimmt irgendetwas nicht, Sir?«
»Ich bin mir nicht sicher.« Pendergast dachte offenbar weiter über den Inhalt des Briefs nach. Dann legte er ihn zur Seite und wandte sich zu seinem Diener um. »Wie dem auch sei, Maurice, ich hatte gehofft, Sie könnten sich mir eventuell in der Bibliothek zugesellen.«
Maurice, der gerade den Tisch abdeckte, hielt inne. »Sir?«
»Ich dachte, dass wir vielleicht gemeinsam einen Verdauungs-Sherry trinken und uns ein wenig über die alten Zeiten unterhalten könnten. Ich stelle fest, dass ich gerade sehr nostalgisch gestimmt bin.«
Eine höchst ungewöhnliche Einladung, was in Maurices Miene auch deutlich zum Ausdruck kam. »Vielen Dank, Sir. Lassen Sie mich vorher nur den Tisch zu Ende abräumen.«
»Sehr gern. Ich gehe in den Keller und suche uns eine schön schimmlige Flasche aus.«
Der Inhalt war, ehrlich gesagt, mehr als schön: ein Hidalgo Oloroso Viejo VORS . Pendergast trank einen Schluck und bewunderte die Komplexität des Sherrys, fruchtig, mit Holznoten und einem Abgang, der unendlich lange am Gaumen zu haften schien. Auf einer Ottomane, auf der anderen Seite des alten Kaschan-Seidenteppichs, saß Maurice sehr aufrecht und steif in seiner Butleruniform da und schien sich auf beinahe komische Art unbehaglich zu fühlen.
»Schmeckt Ihnen der Sherry?«
»Er schmeckt sehr gut, Sir.«
»Dann trinken Sie ihn aus, Maurice. Es hilft, die Feuchtigkeit aus den Zimmern zu vertreiben.«
Maurice tat, wie ihm geheißen. »Soll ich noch ein Scheit in den Kamin legen?«
Pendergast schüttelte den Kopf, dann sah er sich nochmals um. »Erstaunlich, was für eine Flut von Erinnerungen es auslöst, wieder hier zu sein.«
»Das kann ich mir gut denken, Sir.«
Pendergast zeigte auf einen großen, freistehenden Globus in einem Holzrahmen. »Zum Beispiel erinnere ich mich an einen heftigen Streit mit meinem Kindermädchen, darüber, ob Australien ein Kontinent sei. Sie beharrte darauf, dass Australien lediglich eine Insel sei.«
Maurice nickte.
»Und die erlesenen Wedgewood-Teller, die auf dem obersten Bord des Bücherregals dort standen.« Mit einem Nicken zeigte Pendergast auf die Stelle. »Ich entsinne mich noch an den Tag, als mein Bruder und ich den Angriff der Römer auf Silvium nachgespielt haben. Die Belagerungsmaschine, die Diogenes gebaut hatte, erwies sich als allzu effektiv. Die erste Salve landete direkt auf dem Bord dort.« Pendergast schüttelte den Kopf. »Einen Monat lang kein Kakao.«
»Ich erinnere mich nur allzu deutlich daran, Sir«, sagte Maurice und trank aus. Der Sherry schien allmählich seine Wirkung zu entfalten.
Rasch schenkte Pendergast ihnen beiden nach. »Nein, nein, ich bestehe darauf«, sagte er, als Maurice sich zierte.
Er nickte und murmelte »Danke«.
»Dieses Zimmer war immer das Zentrum des Hauses«, sagte Pendergast. »Hier hat das Fest stattgefunden, nachdem ich als Klassenbester von Lusher abgegangen war. Und Großvater hat hier seine Reden geprobt. Wissen Sie noch, wie wir alle um ihn herumsaßen, Zuhörer spielten und Beifall klatschten und pfiffen?«
»Als wäre es gestern gewesen.«
Pendergast trank noch einen Schluck. »Und hier haben wir auch den Empfang gegeben, nach unserer Hochzeitsfeier im französischen Garten.«
»Ja, Sir.« Die scharfe Kante der Reserviertheit war ein wenig stumpf geworden, und es schien auch, als sitze Maurice ein wenig entspannter auf der Ottomane.
»Helen hat dieses Zimmer ebenfalls geliebt.«
»Ja, das hat sie.«
»Ich erinnere mich, dass sie hier oft am Abend gesessen, an ihren Forschungen gearbeitet und die neuesten Fachzeitschriften gelesen hat.«
Ein wehmütiges, nachdenkliches Lächeln huschte über Maurices Züge.
Pendergast betrachtete sein Glas und den herbstfarbenen Sherry darin. »Wir konnten hier Zeit
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