Pendergast 10 - Fever - Schatten der Vergangenheit
wenn die Türen verrammelt und verriegelt waren, die Besucher gegangen und jeder kleine Gegenstand an seinem Platz war, mochte Desmond Tipton am liebsten. Es war die ruhige Phase von 17 bis 20 Uhr, bevor die Touristen, die nur aufs Trinken aus waren, ins French Quarter einfielen wie die mongolischen Horden des Dschingis Khan, die Bars und Jazzclubs heimsuchten und bis zum Abwinken Sazeracs in sich hineinschütteten. Er konnte sie jeden Abend draußen hören, denn ihre feuchtfröhlichen Stimmen und Rufe und ihr infantiles Gegröle wurde nur teilweise von den uralten Wänden des Audubon Cottage gedämpft.
Für heute Abend hatte sich Tipton vorgenommen, die Wachsfigur von John James Audubon abzustauben, das Herzstück und zentrale Motiv des Museums. In dem lebensgroßen Diorama saß der bedeutende Naturforscher in seinem Arbeitszimmer neben dem Kamin, Zeichenblock und Stift in der Hand, und fertigte eine Zeichnung von einem toten, auf einem Tisch liegenden Vogel – einer Scharlachtangare – an. Tipton nahm den kleinen Akkusauger und den Staubwedel und stieg über die Absperrung aus Plexiglas. Zuerst säuberte er Audubons Kleidung, indem er mit dem kleinen Staubsauger darüberfuhr, anschließend hielt er ihn an Bart und Kopfhaar der Figur und wischte mit dem Staubwedel kleine Schmutzpartikel vom hübschen Wachsfigurengesicht.
Plötzlich hörte er etwas. Er hielt inne und schaltete den Akkusauger aus. Wieder das Geräusch: Jemand klopfte an die Eingangstür.
Verärgert schaltete Tipton den Staubsauger wieder ein und machte weiter, doch dann wurde das Klopfen noch lauter. So was erlebte er fast jeden Abend. Betrunkene Schwachköpfe, die die historische Plakette neben der Tür gelesen hatten und deshalb aus irgendeinem Grund anklopften. So ging das nun schon seit Jahren. Immer weniger Besucher am Tag, immer mehr Geklopfe und Gegröle am Abend. Die einzige Erholung waren die Monate nach dem Hurrikan gewesen.
Wieder hartnäckiges Klopfen, bedächtig und laut.
Tipton legte den Handstaubsauger ab, stieg aus dem Diorama und marschierte auf seinen gichtigen O-Beinen zur Tür. »Wir haben geschlossen!«, rief er durch die Eichentür. »Verschwinden Sie, sonst ruf ich die Polizei!«
»Ach, sind Sie das, Mr. Tipton?«, ließ sich die gedämpfte Stimme vernehmen.
Tiptons weiße Augenbrauen ruckten nach oben. Wer konnte das sein? Die Besucher, die tagsüber ins Museum kamen, beachteten ihn gar nicht, und auch er vermied es beharrlich, mit ihnen ein Gespräch zu beginnen, sondern saß, das Gesicht tief über seine Forschungsunterlagen gebeugt, missmutig an seinem Tisch.
»Wer ist da?«, fragte Tipton, nachdem er sich von der Überraschung erholt hatte.
»Könnten wir das Gespräch drinnen fortführen, Mr. Tipton? Es ist ziemlich kalt hier draußen.«
Tipton zögerte, dann entriegelte er die Tür und sah vor sich einen schlanken Herrn in dunklem Anzug, der bleich wie ein Gespenst war und dessen silbrige Augen im Halbdunkel der Straße glänzten. Der Mann kam ihm irgendwie bekannt vor; Tipton erschrak.
»Mr. …
Pendergast?
«, traute er sich beinahe flüsternd zu fragen.
»Höchstselbst.« Pendergast trat ein, ergriff Tiptons Hand und schüttelte sie kurz. Tipton starrte ihn ungläubig an.
Pendergast deutete auf den Besucherstuhl vor Tiptons Schreibtisch. »Darf ich?«
Tipton nickte. Pendergast nahm Platz und schlug die Beine übereinander. Schweigend nahm Tipton auf seinem Stuhl Platz.
»Sie sehen ja aus, als hätten Sie gerade ein Gespenst erblickt.«
»Nun ja, Mr. Pendergast …« Tipton war völlig durcheinander. »Ich dachte … Ihre Familie wäre ausgestorben … Ich hatte ja keine Ahnung …«, stammelte er in die Stille hinein.
»Die Gerüchte über meinen Tod sind stark übertrieben.«
Tipton tastete in der Westentasche seines etwas schmuddeligen dreiteiligen Anzugs, zog ein Taschentuch hervor und tupfte sich die Stirn. »Freut mich, Sie zu sehen, freut mich ungeheuer …« Wieder tupfte er sich die Stirn.
»Das beruht ganz auf Gegenseitigkeit.«
»Was führt Sie hierher zurück, wenn ich fragen darf?« Tipton bemühte sich, seine Fassung wiederzugewinnen. Seit fast fünfzig Jahren war er nun schon als Kurator des Audubon Cottage tätig und wusste daher sehr viel über die Familie Pendergast. Das Letzte, womit er gerechnet hatte, war, einen von denen wiederzusehen. Er erinnerte sich noch gut an die schreckliche Nacht des Brandes, so als wäre es gestern gewesen: der Pöbel auf der Straße, die
Weitere Kostenlose Bücher