Pendergast 10 - Fever - Schatten der Vergangenheit
Leuten gesagt, sie sollen ihre Waffen auf einen Haufen werfen und verschwinden. Und sie haben es getan!« Sie schüttelte den Kopf. »Hat sie Ihnen jemals davon erzählt?«
»Nein.«
»Sie wusste auch, wie man mit einem Derringer umgeht. Sie hat in Afrika schießen gelernt, nicht wahr?«
»Ja.«
»Mir ist das immer ein wenig merkwürdig vorgekommen.«
»Was?«
»Helens Faible für Schusswaffen, meine ich. Ein seltsames Hobby für eine Biologin. Aber jeder hat eben seine eigene Art, sich von Stress zu befreien. Und wenn man in einem Krisengebiet arbeitet, kann der Druck unerträglich sein. Der Tod, die Brutalität, die Barbarei.« Sie schüttelte den Kopf über irgendeine Erinnerung.
»Ich hatte gehofft, Helens Personalakte bei DWW einzusehen, hatte aber keinen Erfolg.«
»Sie haben das Büro ja gesehen. Wie Sie sich vielleicht vorstellen können, halten die dort nicht die allerbeste Ordnung, vor allem was Unterlagen angeht, die älter als zehn Jahre sind. Außerdem wäre Helens Akte schmaler als die meisten.«
»Und warum?«
»Sie hat dort nur halbtags gearbeitet.«
»Nicht … ganztags?«
»Na ja, ›halbtags‹ ist nicht ganz richtig. Ich meine, die meiste Zeit hat sie volle vierzig Stunden gearbeitet – wenn sie in einem Krisengebiet war, sogar sehr viel länger –, aber oft ist sie gar nicht im Büro erschienen, manchmal für Tage hintereinander. Ich hatte immer angenommen, dass sie einen zweiten Job hatte oder an irgendeinem privaten Projekt arbeitete, aber Sie sagten ja eben, es sei ihr einziger Job gewesen.« Kendall zuckte mit den Schultern.
»Sie hatte keinen anderen Job.« Pendergast schwieg einen Augenblick. »Irgendwelche anderen Erinnerungen persönlicher Natur?«
Kendall zögerte. »Sie ist mir immer wie eine sehr zurückhaltende Person vorgekommen. Mir war nicht einmal bekannt, dass sie einen Bruder hatte, bis er eines Tages im Büro aufgekreuzt ist. Ein ausgesprochen gutaussehender Mann. Er war ebenfalls im medizinischen Bereich tätig, wenn ich mich recht entsinne.«
Pendergast nickte. »Judson.«
»Ja, das war sein Name. Ich nehme an, es gab viele Mediziner in der Familie?«
»Allerdings. Helens Vater war Arzt.«
»Das wundert mich nicht.«
»Hat sie mit Ihnen jemals über Audubon gesprochen?«
»Den Maler? Nein, nie. Aber es ist komisch, dass Sie ihn erwähnen.«
»Warum genau?«
»Weil mich das an das einzige Mal erinnert, als ich erlebt habe, dass Helen die Worte fehlten.«
Pendergast beugte sich ein wenig vor auf seinem Stuhl. »Bitte erzählen Sie mir davon.«
»Wir waren auf Sumatra. Ein Tsunami hatte dort große Verheerungen angerichtet.«
Pendergast nickte. »An den Einsatz erinnere ich mich. Helen und ich waren zu der Zeit erst einige Monate verheiratet.«
»Es herrschte das totale Chaos; wir hatten alle bis zum Umfallen gearbeitet. Eines Abends kam ich in das Zelt zurück, das ich mir mit Helen und einer anderen Angehörigen von DWW teilte. Helen saß da, allein, im Campstuhl. Sie döste, auf dem Schoß ein aufgeschlagenes Buch, das die Zeichnung eines Vogels zeigte. Weil ich sie nicht wecken wollte, habe ich ihr das Buch vorsichtig weggenommen. Da ist sie aufgeschreckt, hat mir das Buch aus den Händen gerissen und zugeklappt. Sie schien richtig wütend zu sein. Aber dann bekam sie sich wieder in den Griff, hat die Sache mit einem Lachen abgetan und gesagt, ich hätte sie erschreckt.«
»Was war das für ein Vogel?«
»Klein, ziemlich farbenfroh. Er hatte einen ungewöhnlichen Namen …« Sie versuchte sich zu erinnern. »Ein Teil davon war der Name eines Bundesstaats.«
Pendergast dachte einen Augenblick nach. »Virginia-Ralle?«
»Nein, daran würde ich mich erinnern.«
»Kalifornische Grundammer?«
»Nein. Der Vogel war grün und gelb.«
Es entstand ein längeres Schweigen. »Karolinasittich?«, fragte Pendergast schließlich.
»Genau der! Ich weiß noch, dass ich sagte, ich hätte gar nicht gewusst, dass es in Nordamerika Papageienarten gibt. Aber sie hat die Frage einfach beiseitegewischt, und das war’s.«
»Verstehe. Vielen Dank, Mrs. Kendall.« Pendergast hatte völlig regungslos dagesessen, jetzt erhob er sich plötzlich und streckte seine Hand aus. »Vielen Dank für Ihre Hilfe.«
»Ich hätte gern ein Exemplar Ihrer Biographie. Ich habe Helen sehr gemocht.«
Pendergast verneigte sich knapp. »Ich schicke Ihnen eines zu, sobald das Buch veröffentlicht ist.« Dann wandte er sich um, verließ den Raum und fuhr – mit seinen Gedanken
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