Pendergast 10 - Fever - Schatten der Vergangenheit
distanziert, fast klinisch. »Sie sind keinen Tag älter geworden.«
Das ließ sich von Miriam Kendall nicht behaupten. In dem gelblichen Morgenlicht, das durch die hohen, schmalen Fenster fiel, sah sie sehr viel älter aus als damals, als sie sich mit Helen Esterhazy Pendergast ein Büro teilte. Doch ihr Gebaren war genau so, wie Pendergast es in Erinnerung hatte: knapp, kühl, berufsmäßig.
»Die äußere Erscheinung kann täuschen«, antwortete Pendergast. »Wie dem auch sei. Ich danke Ihnen, dass Sie mich empfangen. Wie lange sind Sie schon an der Tulane?«
»Seit neun Jahren jetzt.« Sie legte die Hände auf den Schreibtisch, Fingerspitzen aneinander. »Ich muss schon sagen, Aloysius, es wundert mich, dass Sie sich mit Ihren Nachforschungen nicht direkt an Helens alten Chef, Morris Blackletter, gewandt haben.«
Pendergast nickte. »Ich habe mich bereits erkundigt. Er lebt inzwischen im Ruhestand, und wie Sie vermutlich wissen, hat er nach seiner Zeit bei Doctors With Wings bei diversen Pharmaunternehmen Beraterpositionen bekleidet. Im Moment macht er allerdings Urlaub in England und kommt erst in ein paar Tagen zurück.«
Sie nickte. »Und was ist mit Doctors With Wings?«
»Ich bin heute Morgen dort gewesen. Das Büro glich einem Irrenhaus, alle bereiteten sich auf ihren Einsatz in Aserbeidschan vor.«
»Ach ja, das Erdbeben. Wie ich höre, soll es viele Tote gegeben haben.«
»Ich habe dort keinen Menschen über dreißig gesehen. Und keiner, der sich eine Minute Zeit genommen hat, um mit mir zu sprechen, hatte die geringste Erinnerung an meine Frau.«
Wieder nickte Kendall. »Das ist ein Job für junge Leute. Deshalb bin ich dort auch weggegangen, um Frauenheilkunde zu unterrichten.« Das Schreibtischtelefon klingelte. Kendall ignorierte es. »Aber egal«, sagte sie flott, »ich bin mehr als glücklich, meine Erinnerungen an Helen mit Ihnen zu teilen, Aloysius, auch wenn ich schon neugierig bin, warum Sie gerade jetzt an mich herantreten, nach all den Jahren.«
»Höchst verständlich. Tatsache ist, dass ich vorhabe, eine Biographie über meine Frau zu schreiben. Eine Art Feier ihres Lebens, so kurz es auch war. Doctors With Wings war Helens erste und einzige Stelle, nachdem sie ihren Master in pharmazeutischer Biologie gemacht hatte.«
»Ich dachte, Sie sei Epidemiologin gewesen.«
»Das war ihre Unterspezialität.« Pendergast hielt inne. »Mir ist klargeworden, wie wenig ich über ihre Arbeit bei DWW weiß. Das ist ein Fehler, den ich mir ganz allein zuzuschreiben habe – und etwas, was ich nun wiedergutmachen möchte.«
Als Kendall das hörte, wurden ihre harten Gesichtszüge etwas weicher. »Das freut mich zu hören. Helen war eine bemerkenswerte Frau.«
»Wenn Sie so freundlich wären, ein wenig über Helens Zeit bei Doctors With Wings zu erzählen. Aber bitte keine Schönfärberei. Meine Frau war nicht ohne Fehler – ich ziehe die ungeschönte Wahrheit vor.«
Kendall sah ihn an. Dann schweifte ihr Blick zu einem unbestimmten Punkt hinter Pendergast und wurde verhangen, so als blickte sie in die Vergangenheit. »Sicherlich wissen Sie einiges über DWW . Wir haben uns für Krankheitspflege, sauberes Trinkwasser und Ernährungsprogramme in der Dritten Welt eingesetzt. Es ging uns darum, die Menschen zu ermächtigen, ihre Lebensbedingungen und ihre gesundheitliche Situation zu verbessern. Aber wenn sich eine Naturkatastrophe ereignet – so wie jetzt das Erdbeben in Aserbeidschan –, haben wir Teams aus Ärzten und Pflegekräften mobilisiert und in die Zielregionen geflogen.«
»So viel weiß ich.«
»Helen …« Sie zögerte.
»Sprechen Sie weiter«, sagte Pendergast leise.
»Helen war sehr effizient in ihrer Arbeit, von Anfang an. Allerdings hatte ich oft das Gefühl, dass es ihr mehr um das Abenteuer als um die Hilfsarbeit ging. Als würde sie die monatelange Büroarbeit nur erledigen, um die Gelegenheit zu bekommen, im Epizentrum irgendeines Katastrophengebiets abgesetzt zu werden.«
Pendergast nickte.
»Ich erinnere mich …« Wieder hielt Kendall inne. »Wollen Sie sich keine Notizen machen?«
»Ich habe ein ausgezeichnetes Gedächtnis, Mrs. Kendall. Bitte fahren Sie fort.«
»Ich erinnere mich, wie in Ruanda eine Gruppe von uns von einem mit Macheten herumfuchtelnden Mob umringt war. Es müssen mindestens fünfzig Männer gewesen sein, ziemlich betrunken. Helen hat plötzlich einen zweischüssigen Derringer hervorgezogen und die ganze Bande entwaffnet. Sie hat den
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