Pendergast 10 - Fever - Schatten der Vergangenheit
Meistens kommen ja Touristen zu uns.«
D’Agosta folgte ihr in eine Empfangshalle. Die Wände und der Boden waren aus weißgestrichenem Holz, die Decke trugen mächtige Balken. Langsam bereute er, sich am Telefon als Audubon-Forscher ausgegeben zu haben. Denn er wusste so wenig über Audubon, so wenig über Vögel, dass er sich sicher war, schon beim geringsten Informationsaustausch passen zu müssen. Am besten, er hielt einfach den Mund.
»Das Wichtigste zuerst!« Marchant trat hinter einen anderen Schreibtisch und schob D’Agosta ein voluminöses Besucherbuch hin. »Bitte unterschreiben Sie, und geben Sie auch den Grund Ihres Besuchs an.«
Er trug seinen Namen und den vermeintlichen Grund ein.
»Vielen Dank! Also, fangen wir an! Was genau soll ich Ihnen denn zeigen?«
D’Agosta räusperte sich. »Ich bin Ornithologe«, er sprach das Wort absolut korrekt aus, »und würde mir gern einige von Audubons Präparaten anschauen.«
»Wunderbar! Wie Sie sicherlich wissen, war Audubon nur vier Monate hier, er arbeitete damals als Zeichenlehrer für Eliza Pirrie, die Tochter von Mr. und Mrs. James Pirrie, den Eigentümern der Oakley-Plantage. Nach einem Streit mit Mrs. Pirrie ist er urplötzlich nach New Orleans zurückgereist und hat sämtliche Präparate und Zeichnungen mitgenommen. Doch als wir vor vierzig Jahren zum historisch bedeutsamen Ort des Staates Louisiana erklärt wurden, haben wir eine Schenkung von Audubon-Zeichnungen, Briefen und einigen seiner Vogel-Präparate erhalten, die wir im Laufe der Jahre ergänzt haben. Und heute besitzen wir eine der schönsten Audubon-Sammlungen in ganz Louisiana!«
Sie strahlte ihn an, wobei ihr Busen leicht wogte. »Sehr schön«, murmelte D’Agosta, zog ein Steno-Notizheft aus der Sakkotasche seines braunen Anzugs und hoffte, dadurch eher das Bild eines seriösen Forschers abzugeben.
»Hier entlang bitte, Dr. D’Agosta.«
Dr. D’Agosta … Er registrierte, dass seine Besorgnis zunahm.
Marchant ging mit festen Schritten über die gestrichenen Pitchpinedielen zu einer Treppe. Sie stiegen in den ersten Stock hinauf und durchquerten mehrere große, mit Stilmöbeln eingerichtete Zimmer, bis sie schließlich zu einer verschlossenen Tür gelangten, hinter der – als sie geöffnet wurde – eine steile, schmale Stiege zum Dachgeschoss hinaufführte. D’Agosta folgte Marchant bis unters Dach. Es handelte sich aber nur dem Namen nach um ein Dachgeschoss, denn alles war makellos sauber und gepflegt und roch nach frischer Farbe. An drei Wänden standen alte Eichenschränke mit Einsätzen aus geriffeltem Glas, außerdem an der gegenüberliegenden Wand modernere, verschlossene Schränke. Licht spendeten die Mansardenfenster mit Milchglasscheiben, die einen kühlen weißen Schein in den Raum hineinließen.
»Wir haben ungefähr hundert Vögel aus Audubons ursprünglicher Sammlung«, sagte Marchant und ging flotten Schritts über den Mittelgang. »Bedauerlicherweise war Audubon kein besonders guter Tierpräparator. Die Präparate wurden aber natürlich stabilisiert. Da wären wir.«
Vor einem großen grauen Metallschrank, der einem Tresor ähnelte, blieben sie stehen. Marchant drehte am Einstellrad und betätigte den Hebelgriff. Mit leise saugendem Unterdruck öffnete sich die große Tür, worauf die inneren Holzschränke mit Beschriftungen in Messing-Etikettenhaltern zum Vorschein kamen, die in jede Schublade gebohrt waren. Der Gestank nach Mottenkugeln schlug D’Agosta entgegen. Marchant zog eines der Schubfächer heraus, und drei Reihen ausgestopfter Vögel waren zu sehen; jede kleine Kralle war mit einem vergilbten Namensschildchen beringt, aus den Augen quoll weiße Baumwolle.
»Die kleinen Namensschildchen stammen original von Audubon«, sagte Marchant. »Ich nehme die Vögel selbst in die Hand – bitte fassen Sie sie nicht an ohne meine Erlaubnis. Also!« Sie lächelte. »Welche würden Sie denn gerne sehen?«
D’Agosta konsultierte sein Notizbuch. Er hatte sich von einer Internetseite, die Audubons Originalpräparate und deren Standorte komplett auflistete, ein paar Vogelnamen herausgesucht. »Ich würde gerne mit dem Stelzenwaldsänger beginnen.«
»Ausgezeichnet!« Die eine Schublade wurde wieder hineingeschoben, eine andere herausgezogen. »Möchten Sie ihn sich auf dem Tisch oder in der Schublade anschauen?«
»Schublade genügt.« D’Agosta klemmte sich eine Lupe in die Augenhöhle und betrachtete leise vor sich hin murmelnd den Vogel aus der Nähe.
Weitere Kostenlose Bücher