Pendergast 11 - Revenge - Eiskalte Täuschung
Anlaufstelle im Ort.
Die Tür ging auf, und eine Frau betrat den Pub. Jennie Prothero. Esterhazy hatte schon jetzt das Gefühl, sämtliche Einwohner dieses verdammten Nests zu kennen. Mrs. Prothero betrieb den Souvenirshop am Ort und nahm, weil der Laden kaum etwas abwarf, nebenbei noch Wäsche an. Sie war rundlich und liebenswürdig und hatte ein beinahe krebsrotes Gesicht. Obwohl es ein milder Oktobertag war, trug sie einen dicken Wollschal.
»Hallo, Paulie«, begrüßte sie den Barkeeper und ließ sich auf einem der beiden freien Barhocker so sittsam nieder, wie es ihr mit ihren neunzig Kilo möglich war.
»Tag, Jennie«, antwortete MacFlecknoe und wischte pflichtschuldig die zerkratzte Holztheke vor ihr ab, zapfte ein Pint Bitter und stellte das Glas auf einen Bierdeckel.
Sie wandte sich zu Esterhazy um. »Und, wie geht’s Ihnen heute, Mr. Draper?«
Esterhazy lächelte. »Schon viel besser, danke. Anscheinend war’s nur ein gezerrter Muskel.«
Sie nickte vielsagend. »Das freut mich zu hören.«
»Ich habe Doktor Roscommon zu danken.«
»Er ist ein guter Arzt, ein richtig guter«, sagte der Barkeeper. »Wir können von Glück reden, dass wir ihn haben.«
»Ja, er scheint mir ein ausgezeichneter Arzt zu sein.«
MacFlecknoe nickte. »Hat seine Ausbildung in London gemacht.«
»Offen gestanden wundert es mich, dass er hier in seiner Praxis genug zu tun hat.«
»Na ja, er ist der einzige Doc im Umkreis von zwanzig Meilen«, sagte Prothero. »Zumindest seit der alte Crastner im vergangenen Frühjahr verstorben ist.«
»Dann hat er also viel zu tun?« Esterhazy trank beiläufig einen Schluck von seinem Guinness.
»Das kann man wohl sagen«, antwortete MacFlecknoe. »Die Praxis ist durchgehend geöffnet.«
»Durchgehend? Das überrascht mich aber. Ich meine, bei einer Landarztpraxis.«
»Na ja, es gibt auch hier Notfälle, so wie überall«, erwiderte der Barkeeper. Mit einem Nicken wies er auf die gegenüberliegende Straßenseite, wo sich die Praxisräume des Arztes befanden. »Manchmal sind in seinem Haus bis weit nach Mitternacht die Lichter an.«
»Was Sie nicht sagen«, entgegnete Esterhazy. »Wann ist das denn zum letzten Mal passiert?«
MacFlecknoe dachte nach. »Vor ungefähr drei Wochen. Vielleicht ist es auch länger her. Ich kann das nicht so genau sagen. Kommt aber nicht besonders oft vor. Allerdings erinnere ich mich an dieses eine Mal, weil er zweimal aus dem Haus gegangen und wieder zurückgekommen ist. Und es war schon spät – nach neun.«
»Das könnte wegen der armen Mrs. Bloor gewesen sein«, sagte Jennie Prothero. »Ihr geht’s schon seit einigen Monaten ziemlich schlecht.«
»Nein, er ist nicht Richtung Hithe gefahren«, sagte der Barkeeper. »Ich habe gehört, dass der Wagen nach Westen gefahren ist.«
»Nach Westen?«, fragte Mrs. Prothero. »Aber da ist doch nichts als das Moor.«
»Vielleicht wurde er zu einem der Hotelgäste oben in der Lodge gerufen«, sagte MacFlecknoe.
Mrs. Prothero trank einen Schluck von ihrem Bitter. »Jetzt, wo du das sagst – um die Zeit hab ich aus der Praxis des Doktors Wäsche zum Waschen bekommen. Die Sachen waren wirklich blutig.«
»Tatsächlich?« Esterhazys Herz schlug schneller. »Was für Wäsche denn?«
»Ach, das Übliche. Medizinische Verbände, Tücher.«
»Na, Jennie, das ist doch nichts Ungewöhnliches. Die Bauern hier in der Gegend haben doch dauernd Unfälle.«
»Ja«, sagte Esterhazy mehr zu sich selbst als zu den anderen beiden. »Aber nicht mitten in der Nacht.«
»Was sagten Sie, Mr. Draper?«, fragte Jennie Prothero.
»Ach, nichts.« Esterhazy trank sein Guinness aus.
»Woll’n Sie noch eins?«
»Nein danke. Aber ich möchte Ihnen und Mrs. Prothero eins ausgeben.«
»Aber gern, Sir, und haben Sie vielen Dank.«
Esterhazy nickte, schaute aber nicht zum Barkeeper hinüber. Vielmehr richtete er den Blick auf das kreisrunde Fenster in der Tür und die cremefarben gestrichene Praxis von Dr. Roscommon auf der anderen Straßenseite.
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14
Malfourche, Mississippi
Ned Betterton fuhr vor der schmuddeligen Flachglas-Ladenfront des
Ideal Café
vor, betrat die nach Bacon und Zwiebeln riechenden Räumlichkeiten und bestellte einen Kaffee, süß und leicht. Das
Ideal
war eigentlich gar kein Café, aber Malfourche war ja eigentlich auch keine richtige Stadt. Ganz verarmt und halb verlassen, geriet das Leben hier langsam völlig aus den Fugen. Die Jugendlichen, die irgendetwas konnten, hauten so schnell wie
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