Penelope Williamson
vertreiben.
Aber es war ein zu schöner Tag für so ernste Dinge, und es dauerte
nicht lange, bis sie in einem Kanu auf dem See dahintrieben: Delia lehnte
bequem mit dem Rücken an Tyls warmer Brust und in seinen sicheren Armen.
Zunächst unterbrachen nur gelegentliche Küsse
ihre Unterhaltung. Aber bald redeten sie immer weniger, die Küsse wurden immer
mehr, immer länger und leidenschaftlicher, bis das Kanu gefährlich zu schaukeln
anfing.
Delia wehrte sich halbherzig gegen Tyls Umarmung. Ihr Herz schlug
wie rasend, obwohl das nicht daher kam, daß sie zu kentern drohten. »Denk
daran, was passiert ist, als du das letzte Mal versucht hast, mich in einem
Boot zu küssen.«
Tyls Lippen begannen einen Flankenangriff auf ihren Mund, indem
sie seitlich an ihrem Hals nach oben glitten. »Soweit ich mich erinnere«,
murmelte er, »hast du mich geküßt.«
Delias Lachen klang wie ein tiefes, zufriedenes Schnurren. »War
ich wirklich so schamlos?«
»Jetzt darfst du schamlos sein, denn du bist meine Frau, und ich
erlaube es dir«, sagte Tyl und schob die Hand von oben in das lose Kleid.
Plötzlich erklang über ihnen ein lautes,
höhnisches Gelächter, und ein großer kräftiger Vogel sauste neben ihnen wie ein
Stein ins Wasser. Ein Schauer eisiger Tropfen ging auf sie nieder, das Kanu
schaukelte heftig, und beinahe hätten sie doch noch ein unfreiwilliges Bad im
See genommen.
Delia setzte sich erschrocken auf und zog das aufgeschnürte
Oberteil wieder zu. Sie blickte ins Wasser, wo der Vogel untergetaucht war,
aber sie sah nur kleine Wellen. »Was um alles in der Welt war das?« fragte sie
verlegen und wurde rot, worauf Tyl genau so laut lachte wie der Vogel.
In diesem Augenblick schoß ein scharfer Schnabel aus dem Wasser,
dem ein grünschillernder Kopf folgte. Dann tauchte der Vogel auf. Er trug noch
sein auffälliges Sommergefieder – schwarzweiß gefleckt mit einem gestreiften
Hals. Er sah Delia mit seinen kleinen Knopfaugen aufmerksam an und stieß seinen
seltsamen Ruf aus.
Ein anderer Ruf antwortete ihm. Delias Kopf fuhr herum, und sie
sah, daß er von Tyl kam.
Der Vogel umkreiste das Kanu so schnell, daß er mit den Füßen
beinahe aufrecht über das Wasser lief. Dabei rief er wieder ein langes,
gedehntes »Hoo-hoo-oo«. Tyl erwiderte den Ruf. Der Vogel lachte:
»Ah-aha-ha-ha.« Tyl ahmte ihn nach. Der Vogel rief: »Haha-l000.« Tyl konnte
auch das.
Delia mußte über dieses lustige Spiel herzlich lachen. Ihr Mann
hatte so viele Seiten: Dr. Tyler Savitch, der Arzt, Tyler Savitch, der
kultivierte Herr, Bedagi, der Abenaki-Krieger, aber Bedagi-Tyl, der
Vogelmensch, diesen Mann mochte sie am meisten, denn im Grunde war er
wieder ein kleiner Junge, der unbeschwert mit einem Eistaucher spielen konnte
...
Eine Berührung an ihrem Arm brachte sie in die Gegenwart zurück.
Sie blickte in Elizabeths rosiges Gesicht. »Es fängt wieder an zu schneien«,
sagte Elizabeth. »Glaubst du nicht, wir sollten zurückgehen?«
Delia wollte ihr gerade zustimmen, denn inzwischen fielen große
dicke Flocken vom Himmel, als Elizabeth blaß wurde. Sie schrie erschrocken auf
und deutete in Richtung der Bäume.
Pulwaugh drehte sich zuerst um, und auch er stieß einen gellenden
Schrei aus. Die Hand, mit der er nach dem Tomahawk griff, zitterte. »Ein
Geist!« rief er.
»Unsinn!« schnaubte Delia. Sie kannte niemanden, der so bereitwillig
an »Geister« glaubte wie die Abenaki. »Es ist nur ein Mann.«
Der Mann war groß und breitschultrig, aber völlig abgezehrt. Die
Kleider hingen ihm in Fetzen vom Leib, und das lange schwarze Haar wehte um
sein Gesicht wie eine zerschlissene Fahne. Er hob beide Hände wie ein Blinder,
der nichts sieht.
»Das ist ja Traumbringer«, flüsterte Delia. Traurig dachte sie an
Silberbirke, die Tag um Tag im Langhaus auf die Rückkehr ihres Mannes wartete.
»Vielleicht sollten wir zu ihm gehen und mit ihm reden. Er sieht hungrig aus
und ist halb erfroren.«
Pulwaugh schüttelte heftig den Kopf, während er ihre Sachen
einsammelte und sie in Richtung Dorf schickte. Delia gehorchte widerspruchslos.
In Wirklichkeit fürchtete sie sich vor Traumbringer. Sie hätte sich bestimmt
nicht allein in seine Nähe gewagt.
Die drei folgten ihren eigenen Spuren, und Delia warf noch einmal
einen Blick zurück zum See. Traumbringer stand immer noch unbeweglich dort. Im
glitzernden weißen Schnee wirkte er wirklich wie ein Gespenst. Delia überlief
ein unheilvoller Schauer.
Der
schneidende Wind fuhr ihm durch
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