Penelope Williamson
Ich nehme
an, er kommt auf dem schnellsten Weg hierher.«
»Anne, wovon reden Sie ...«, begann Delia. Aber die Frage blieb
ihr im Hals stecken, als sie Tyls Blick sah, der sich auf einen Punkt hinter
ihr richtete. Aus seinem Gesicht wich schlagartig alles Blut. Seine
Wangenknochen traten hervor, und seine Augen wurden groß und dunkel. Er war wie
gelähmt vor Schreck ... und vor Angst.
In diesem Augenblick legte Anne Bishop Delia die Hand auf den Arm.
»Siehst du, was habe ich gesagt? Da kommt er schon.«
»Aber das ist ... nein ...«, flüsterte Delia, als sie sich
umdrehte und ganz plötzlich wußte, wen sie sehen würde.
Er kam mit seinen steifbeinigen, ruckartigen
Schritten auf sie zu. Er hatte die Haare wachsen lassen; sie fielen ihm auf die
Schultern. Sein Lächeln wurde immer freudiger, und die Falten in seinen Wangen
vertieften sich. So hatte er noch nie gestrahlt, seit sie ihn kannte.
»Delia!« rief er.
»Nat?«
27
»Delia!«
Nat Parker hinkte ihr so glücklich entgegen, daß Delia fürchtete,
er werde sie in die Arme schließen. Sie wich einen Schritt zurück und drückte
Tildy an sich, als könne sie das kleine Mädchen wie einen Schild benutzen.
»Nat ... wir dachten, du seist tot.«
Er blieb dicht vor ihr stehen und sah sie mit großen Augen an. Er
lachte etwas zu laut. »Du siehst auch so aus, als wäre dir gerade ein Geist
begegnet.«
»Die Abenaki haben Papa am Kopf getroffen!«
rief Tildy und zupfte Delia an den Haaren, um sie auf sich aufmerksam zu
machen.
Delia hielt die Hand des kleinen Mädchens fest. Sie starrte Nat an
und versuchte, etwas zu sagen. Es dauerte scheinbar eine Ewigkeit, bis es ihr
gelang, den Mund zu öffnen. »Aber Nat, ich habe doch gesehen ...« Sie
schauderte beim Gedanken daran. »Du warst tot. Traumbringer hat dich
skalpiert.«
Nat fuhr sich lachend mit der Hand durch die
Haare, wie um sich zu vergewissern, daß sie noch da waren. »Anfangs haben das
alle gedacht. Aber du hast nicht mich, sondern den Jungen aus Topsham gesehen.
Er hatte an diesem Tag gefroren und sich meinen Mantel ausgeliehen.« Als er
ihren ungläubigen, verwirrten Gesichtsausdruck sah, redete er schnell weiter.
»Als die Abenaki angriffen, bin ich ...«, er wurde über und über rot, » ... bin
ich davongerannt. Ich bin bis zum Waldrand gekommen, als mich einer von hinten
erwischte. Er hat mich mit der Keule am Kopf getroffen, und ich bin rückwärts
in Äste und Zweige gefallen. Ich nehme an, es war ihm zu
mühsam, mich da rauszuholen, um meinen Skalp zu nehmen. Vielleicht hat ihn auch
etwas anderes abgelenkt. Jedenfalls habe ich da ... ich weiß nicht wie lange
... bewußtlos gelegen.« Er warf Tyl einen schnellen Blick zu. »Der Doktor hatte
sich schon an die Verfolgung gemacht, als sie mich gefunden haben. Später
haben wir durch Jefferson eine Nachricht geschickt. Ich nehme an, du hast sie
nie bekommen.«
Tyl sagte nichts. Er rührte sich nicht. Delia fürchtete sich
davor, ihn anzusehen. Aber schließlich drehte sie sich nach ihm um.
Auf seinem Gesicht lag immer noch der Ausdruck nackten Entsetzens,
als habe er seinen eigenen Tod gesehen. Ihre Blicke trafen sich, und seine
Augen wurden hart. Sie fragte sich, was er von ihr erwartete. Sollte sie Nat
auf der Stelle, vor seinen Kindern und ganz Merrymeeting über ihre Beziehung
aufklären?
Sie schüttelte beinahe unmerklich den Kopf und sah ihn bittend an.
Als sie feststellte, daß sich sein Mund voll Bitterkeit verzog, verkrampfte
sich ihr Herz vor Qual.
Er drehte sich schweigend um und ging mit großen Schritten zum
Wald zurück, aus dem sie gekommen waren.
Tyl ..., rief Delia stumm hinter ihm her, während sie zusah, wie
seine hoch aufgerichtete Gestalt im Dunkel der Baumschatten verschwand. Bitte
bleib, damit ich mich dem nicht allein stellen muß. Ich brauche dich. Du bist
mein Mann ...
Sie legte die Hand auf den Mund, um den Gedanken wie einen
Aufschrei zu unterdrücken. Sie drehte sich um und blickte in zwei, von blassen
Wimpern gesäumte, ernste graue Augen. Das strahlende Lächeln war verschwunden.
Sie sah das alte, ernste und traurige Gesicht, das sie kannte.
»Delia?« sagte Nat.
Ja, es war Nat ... ihr Mann Nat.
Delia schob den mit heißem Wasser gefüllten, verschlossenen Tonkrug an
das Fußende des Strohsacks und packte Tildy bis zu den Grübchen in die warmen
Decken. »Stell deine Füße darauf, mein Schatz. Heute nacht wird es sehr kalt
werden.« Sie schob dem kleinen Mädchen die Locken aus der Stirn und küßte
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