Penelope Williamson
fiel wieder auf einen kleinen Wildlederbeutel, den er offenbar immer
um den Hals trug.
Sie berührte den Beutel mit dem Zeigefinge.
»Was ist das?«
Er schüttelte unwillig den Kopf. »Nur ein
Beutel ...«
»Aber was ist darin?«
Er seufzte. »Ein Totem ... es besitzt die Kraft von Manitu und ist
mein Schutzgeist.«
»Du glaubst an diese Indianerdinge ... an Schutzgeister?« fragte
sie nach langem Schweigen.
Er antwortete nicht. »Gib mir deinen linken Fuß«, befahl er statt
dessen. Als er das Fußgelenk umfaßte, lief ein Schauer durch ihren ganzen
Körper. »Hoffentlich hast du dir keine Lungenentzündung geholt«, murmelte Tyl. »Und du hättest dich wegen dieser dämlichen
Schuhe noch einmal in den Fluß gestürzt ...« Er streifte ihr den Mokassin beinahe grob über den Fuß. »Jetzt den anderen Fuß!«
»Tyl, das sind Mokassins für eine Frau. Woher hast du sie?« fragte
sie, bedauerte die vorwitzige Frage jedoch sofort und hätte sich am liebsten
auf die Zunge gebissen. Vermutlich gehörten sie einer Abenaki, die seine
Liebste gewesen war.
Delia dachte, er werde ihre Frage nicht beantworten, aber nach
kurzem Schweigen sagte er: »Sie haben meiner Mutter gehört.«
Betroffen blickte Delia auf seinen gebeugten Kopf. In diesem
Augenblick liebte sie ihn so sehr, daß ihr das Schmerzen bereitete.
»Ich verspreche, mit diesen Mokassins besonders vorsichtig zu
sein, Tyl«, sagte sie leise. »Du möchtest bestimmt, daß ich sie dir zurückgebe.«
Er hatte ihr inzwischen auch den anderen Mokassin angezogen, aber
er ließ ihren Fuß nicht los. Mit dem Daumen fuhr er über die Kappe und die Spitze und strich das Leder
glatt. Dann glitt seine Hand höher, über ihren Unterschenkel, bis zu den Knien.
Delia zuckte heftig zusammen.
Er sah sie
an und lachte. »Bist du kitzlig?«
»Ja ...«, stieß sie verlegen hervor und wurde rot. Ihr ganzer Körper
spannte sich. Sie hielt die Luft an und rührte sich nicht, denn sie fürchtete, seine Hand könnte sich noch
höher wagen. Aber seine Finger glitten über das Schienbein zum Fußknöchel
zurück. Dann zog er die Hand zurück, aber in seinem Blick lag eine so stürmische
Leidenschaft, daß sie glaubte, wie Butter in der Sonne zu zergehen.
»Komm heute nacht zu mir, Delia«, sagte er leise. Sie beugte sich
vor, als könnte sie ihn nicht verstehen. »Versprich es mir ...«
»Was?« stieß sie tonlos hervor.
Er lächelte unbekümmert. »Ich möchte, daß du heute Nacht bei mir
schläfst. Ich will dich, Delia.«
Die Haustür ging quietschend auf. Sie erschraken beide und fuhren
schuldbewußt auseinander. Reverend Hooker trat, gefolgt von seiner Frau, auf
die Veranda. Er nickte Delia zu und sagte mit einem nachdenklichen Blick auf
den Regen: »Das wird heute ein beschwerlicher Tag werden. Warum knien Sie vor
Delia, Tyl? Machen Sie ihr vielleicht einen Heiratsan ...?«
»Machen Sie keine dummen Witze, Caleb!« Tyl sprang auf und klopfte
sich den Staub von der Hose. Delia streckte die Füße aus und rief: »Sehen Sie,
was Tyl mir gegeben hat!«
»Oh, sind die schön!« rief Elizabeth und trat nach einem trüben
Blick auf den Regen neben Delia.
»Wir müssen aufbrechen!« mahnte Tyl und griff nach den Satteltaschen.
»Wenn wir so weitermachen, bin ich ein alter Mann, bis wir Merrymeeting
erreicht haben.«
»Hören Sie nicht auf ihn«, sagte Delia zu Elizabeth. »Er hat morgens
immer schlechte Laune. Aber er beißt nicht, man muß ihn nur in Ruhe lassen.«
Die Hookers lachten. Tyl nahm kopfschüttelnd die Satteltaschen auf
den Rücken und stapfte durch den Regen in Richtung Stall. Ich will dich,
Delia ...
Hatte er das wirklich gesagt?
Sie nahmen die
Fähre nach Kittery. Von dort wollten sie dem King's Highway folgen. Diese
Straße führte an der Küste entlang bis nach Falmouth. Delia blieb mit ihrer
Stute dicht neben dem Wagen der Hookers. Neugierig betrachtete sie die kleine
Siedlung, in der Tyl aufgewachsen war. Hier hatte er eine Familie gehabt, bevor
die Indianer sie in jener Februarnacht überfielen und er selbst zu einem
Indianer wurde. Aber Tyl hatte in die Welt der Weißen, der Yengi, zurückkehren
müssen und war zu einem englischen Gentleman geworden ...
Delia dachte bekümmert an den kleinen Jungen und an den jungen
Mann, der schon so früh im Leben alle verloren hatte, die ihm lieb und teuer
waren – seinen Vater, die Mutter und schließlich Assacumbuit, seinen
indianischen Stiefvater. Auch Delia hatte ihre Mutter verloren und erlebt, wie
ihr Vater
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