Penelope Williamson
Segel
rosarot. Der Meeresarm wurde breiter, und immer mehr Robben bevölkerten das
Wasser. Ihnen mußten sie jedoch keinen Trockenfisch zuwerfen, denn es wimmelte
nur so von Lachsen und Seebarschen, an denen sich die Robben satt fraßen.
Delia stand an der Reling und staunte über das
Panorama, das sich ihren Blicken bot. »Das ist ja wunderschön ...«, flüsterte
sie überwältigt.
Sie spürte, wie jemand neben sie trat, und dachte, es sei Kapitän
Abbott, aber als sie sich umdrehte, sah sie Tyl neben sich. Sie wurde rot, und
ihr Herz schlug schneller.
»Der Legende nach«, sagte er leise, »gibt es
irgendwo in Maine eine Stadt aus purem Gold. Sie heißt Norumbega. Viele haben
sich schon auf die Suche nach ihr gemacht, aber niemand hat sie gefunden.«
Das blaugrüne Wasser war so klar wie der
Himmel über ihnen. Das Meer schien den Himmel zu spiegeln oder der Himmel das
Meer. In der Ferne erhoben sich im zarten Dunst blaue Berge, aber am Ufer stieg
das Land nur sanft an. Die dunklen Kiefern, Tannen, Zedern und Ahornbäume
überzogen die Anhöhen wie dicke kostbare Teppiche. Zahreiche kleine Bäche und
Flüsse mündeten in die Bucht. Wilder Reis und saftiggrüne Sumpfgräser wiegten
sich im Wind.
»In den schneebeckten Bergen entspringen fünf große Flüsse,
darunter auch der Kennebec. Auf ihrem Weg herunter werden sie von unzähligen
Bächen und Seen gespeist und münden schließlich in diese schöne Bucht.«
»Hier«, flüsterte Delia, »hier ist die
goldene Stadt.«
Tyl sah sie mit großen Augen an, und so etwas wie Ehrfurcht zeigte
sich auf seinem Gesicht.
»Ja, das stimmt«, sagte er. »Merrymeeting ist für mich wie eine
Legende ...«
Er liebt dieses Land, dachte sie. Er liebt diesen Ort. Wie schön,
daß es einen Platz gibt, an dem er glücklich sein kann, ein Zuhause.
Tyl schien aus einem Traum zu erwachen.
»Die Abenaki nennen es Quinnebequi. So heißt bei ihnen auch der
Flußgeist. Sie glauben, er lebt in diesen Gewässern. Es ist ein heiliger Ort.«
Ein kalter Schauer lief Delia über den Rücken. »Ist Quinnebequi
ein guter Geist?« fragte sie mit angehaltenem Atem.
»Natürlich.« Er lächelte und breitete die
Arme aus, als wolle er alles, was sie umgab – die Bucht, die Bäume, die Flüsse
–, umarmen. »Wie kann das Böse mit dieser Schönheit etwas zu tun haben? Dieses
Gebiet, die Kennebecmündung, beherbergte die Fisch- und Jagdgründe meines Vol
...«, er verbesserte sich, »der Norridgewocks.«
»Beherbergte?«
Er verzog schmerzlich das Gesicht. »Jetzt leben hier die Yengi.«
»Du bist doch auch ...«
Sie hatte sagen wollen: »Bu bist doch auch ein Yengi. Deine Eltern sind Engländer.« Aber inzwischen wußte sie, daß sein
Wesen gespalten war, und sie zweifelte nicht daran, daß hier in den Jagdgründen,
die unter dem Schutz des Flußgottes Quinnebequi standen, ein Teil von Tyls
Seele am liebsten weilte. Und dieser Teil gehörte zu den Abenaki.
Die Segel klatschten, als die Sagadahoc Maiden beidrehte
und auf die Mündung des Kennebec zusteuerte. Delia bekam den ersten Eindruck
von ihrer neuen Heimat, der Siedlung Merrymeeting.
Beim Näherkommen sahen sie einen kurzen breiten Kai, auf dem viele
Fässer standen. Lange weiße Kiefernstämme wurden gerade mit einer Winde in ein
Schiff geladen. Ein Sägewerk beherrschte das Bild. Hier wurden die gefällten
Baumstämme zu Bauholz und Brettern verarbeitet. Neben dem Sägewerk stand ein
herrschaftliches Haus aus roten Steinen mit einem Walmdach.
Zwischen den dichten Bäumen am Saum des Ufers entdeckte Delia
vereinzelte schlichte Holzhäuser. Zu ihrer Linken stand auf einer Anhöhe ein
zweistöckiges, von Palisaden umgebenes Blockhaus. Auf dem Dach hing eine
Glocke, und in den Wänden gab es Sehschlitze. Das Haus erinnerte drohend daran,
daß Merrymeeting zwar eine Sägemühle hatte und ein Bethaus, sich sogar als
Stadt bezeichnen mochte, daß es aber trotz allem ein Außenposten war in einer
feindlichen und gefährlichen Umgebung.
Die Sagadahoc Maiden umschiffte eine Reihe flacher
Flußkähne, die an Bug und Heck miteinander vertäut waren, und näherte sich
langsam dem Kai. Die Hookers kamen an Deck. Elizabeth war zwar noch immer sehr
blaß, aber die Seekrankheit hatte sich bei der Annäherung an das Land offenbar
verabschiedet.
»Seht!« flüsterte Elizabeth und deutete zur Anlegestelle. »Sie
erwarten uns.«
Delia kniff die Augen zusammen, denn die untergehende Sonne schien
ihr direkt ins Gesicht. Am Kai stand eine Gruppe
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