Penelope Williamson
daß einem buchstäblich alles abfriert.« Stuart nahm noch einen
tiefen Schluck und schüttelte sich übertrieben. »Siehst du, Bruderherz, und
deshalb trinke ich ab und zu einen Schluck. Du solltest mich also nicht wie ein
griesgrämiger Pfarrer anstarren, sondern mich zu meiner klugen Voraussicht beglückwünschen!
Schließlich kann das Blut nicht gefrieren, wenn es zu neunzig Prozent aus
Alkohol besteht.«
Das wird einen Betrunkenen aber
nicht davor bewahren, sich seinen verdammten Hals zu brechen, dachte Geoffrey,
aber er schwieg. Sein Bruder, der jedoch wie immer seine Gedanken lesen konnte,
lachte und prostete ihm übermütig mit der Whiskyflasche zu.
Geoffrey
biß die Zähne zusammen und wandte den Blick ab.
Auf dem
Platz vor dem Haus hatte er seinen Bruder mit zusammengekniffenen Augen verstohlen gemustert. Stuart sah gut
aus. Er hatte eine wohlgeformte aristokratische Nase und hohe Wangenknochen.
Die vollen Lippen verliehen ihm auch dann noch den gewissen unbändigen Charme,
wenn sie wie jetzt unter der Wirkung des Alkohols etwas schlaff waren.
Als Geoffrey das Gesicht
betrachtete, das seinem eigenen so sehr glich, fühlte er etwas wie Angst in
sich aufsteigen. Es war die Art, wie sein Bruder Emma angesehen hatte.
Aber wer sah Emma nicht an?
Als Emma auf die Veranda des
gelben Farmhauses trat, verstummten alle anwesenden Männer, und niemand bewegte
sich mehr. Sogar die
Pferde
erstarrten. Emma hatte allein zwischen den weißen Holzsäulen der Veranda
gestanden. Ihre Erscheinung hatte dieselbe Wirkung wie ein Donnerschlag an
einem sonnigen Tag.
Geoffrey
hörte, wie sein Bruder langsam pfeifend den Atem ausstieß. Er drehte sich um
und sah gerade noch das Aufblitzen in Stuarts hellen Augen.
»Großer Gott!« murmelte Stuart.
»Wenn das nicht unsere liebe kleine Emma ist. Sie ist wirklich kein Kind mehr.«
»Sie gehört mir«, hatte Geoffrey scharf erwidert. Er
staunte selbst über seinen herrischen Ton und wurde natürlich wieder rot.
Stuart wandte den Blick langsam von der Frau auf der Veranda zwischen den
Säulen und betrachtete seinen Bruder mit einer hochgezogenen hellen
Augenbraue. »Ah! Aber weiß sie das auch?«
»Verdammt! Stuart ... du kannst dich nicht so viele Jahre
in der Welt herumtreiben, dann wieder hier auftauchen und erwarten ...«
Geoffrey biß die Zähne so fest zusammen, daß es schmerzte. Stuart lachte. »Ich erwarte nichts,
lieber Bruder. Und das ist meine einzig gute Eigenschaft.«
Wider
Willen mußte daraufhin auch Geoffrey etwas lachen. »Du bist einfach
unverbesserlich, und du hast noch die Kühnheit, es zuzugeben.«
»Gut, dann habe ich zwei gute Eigenschaften.«
Die Brüder lächelten beide, und
wie auf ein Zeichen richteten sich ihre Blicke wieder unwillkürlich auf die
Frau zwischen den Säulen.
Sie war so
jung und unbeschreiblich bezaubernd. Aber ihre Schönheit schien eher die einer
Vision entsprungen aus den Träumen der Männer zu sein. Denn aus der Entfernung
konnten die beiden nicht einmal sehen, daß die dunklen Locken unter dem
schwarzen Seidenzylinderhut wie Lack glänzten. Sie konnten nur ahnen, daß sich
das weiße Leinentuch um einen schneeweißen langen Hals schmiegte und daß das
Veilchen im Knopfloch über ihrer Brust vor starken Gefühlen bebte – vor Angst
oder vielleicht vor Erregung?
Sie waren
zu weit entfernt, um ihre Augen zu sehen, die weder grau noch grün oder blau
waren, sondern die Farbe des Meeres bei Sonnenaufgang hatten – so tief, so
strahlend und so hell. Nur Geoffrey, der sie liebte, wußte, daß sich alle
Sehnsüchte dieser Welt in Emmas Augen spiegelten. Und er wußte auch, wer einmal
in diese Augen geblickt hatte, konnte seinen Blick nie mehr von ihnen wenden.
Zweites Kapitel
Zuerst roch sie ihn, scharf und beißend.
Dann erst
konnte Emma ihn sehen. Der Fuchs kauerte auf einer Mauer, die von alten Ranken
überwachsen war. Er regte sich nicht, als sei er bei ihrem Anblick erstarrt.
Sie hatte das Pferd gezügelt und wartete.
Das rostrote Fell fiel ihm in
großen Büscheln aus. Beuteblut befleckte seine Schnauze. Er blickte mit
schwarzen, glänzenden Augen unverwandt auf sie.
Emma hatte das seltsame Gefühl,
daß er sie mit seinen Augen stumm darum bat, ihn nicht zu verraten.
Die
Jagdgesellschaft hatte sich am Waldrand verteilt. Pferde und Reiter warteten
darauf, daß die Hunde eine Spur aufnehmen und den Fuchs aus seinem Versteck
treiben würden.
Emma war
mit ihrer Stute etwas weiter weg geritten, bis zu einer Mauer, die
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