Per Anhalter (German Edition)
brauchbare Hinweise gab es kaum. Ein Supermarktbesitzer aus Ostholstein berichtete, dass „diese Frau“ möglicherweise die war, die bei ihm Ladenverbot hatte, weil sie ständig stundenlang im Geschäft herum lungerte und nichts kaufte. Höchstens mal einen Becher Sahne oder so. Jedenfalls dachten seine Mitarbeiter sie klaut und hatten sie irgendwann des Hauses verwiesen. Stattdessen, das war dem Mann eingefallen, war doch vor kurzem einer Frau aus der Gegend das Kind gestohlen worden. Ein unfassbar grausames Verbrechen, das deutschlandweit für Schlagzeilen sorgte. Da in den Medienberichten auch von einem Kleinkind die Rede war, so der Marktleiter, und er sich sicher war, die Personenbeschreibung (Elli und ihr Mann hatten sie gemacht) passte zu der Frau, bestünde doch unter Umständen die Möglichkeit, dass sie es war, die das Baby entwendet hatte.
Dieser Hinweis war einer der wenigen, der in die engere Auswahl der „brauchbaren“ gelangte. In den frühen Abendstunden wurde der Geländewagen gefunden. Er war auf einem Rastplatz an der A7 abgestellt, und der Innenraum mit einem Feuerlöscher von allen Spuren bereinigt worden. Und noch etwas anderes stellten die Kriminalbeamten fest…
***
Um kurz vor acht am nächsten Morgen erwachte Mareike Gimm endgültig aus ihrem unruhigen Schlaf.
In der Nacht war sie wieder einmal gefühlte hundert Male wach geworden. Jedes Mal kaltschweißig, jedes Mal aufgeschreckt durch einen neuen wirren Traum, und von Zeit zu Zeit glaubte sie es an der Haustür klopfen gehört zu haben, doch es war nur ein beschissenes Donnergrollen oder der Regen, der vom Wind ans Schlafzimmerfenster gepeitscht wurde.
Inzwischen war es hell draußen. Nicht sonnig, eher milchig. Dunstig und trüb. Die Gardinen waren vorgezogen, doch sie konnte durch einen Spalt ein Stück vom Fenster sehen. Ihr Herz fing auf einmal an zu rasen – hatte sie verschlafen? Der Wecker neben ihrem Bett zeigte mit dicken roten Zahlen 7:46 an. Sie hätte seit um 5:30 Uhr auf Arbeit sein müssen! Dass würde sie den Kopf kosten. Der Alte würde sie hochkannt rausschmeißen, er würde…
Nein! Halt!
Ich hab doch mit Gaby getauscht. Ich hab heute Spätdienst. Alles ist gut. Alles ist gut, kein Grund zur Aufregung! Sie regte sich trotzdem auf, und zwar so sehr, dass ihr gescholtenes Herz hämmerte, als ob sie einen Sprintlauf hinter sich hatte. Sie brauchte dringend eine Zigarette und einen Kaffee.
Als erstes jedoch musste sie auf ihr Handy schauen, nachsehen, ob David sich nicht doch gemeldet hatte. Ernüchterung. Kein Anruf, keine SMS. Von niemandem.
Hatte sie das etwa wirklich erwartet?
Sie streifte die Decke ab und bemerkte erst jetzt, wie jemand von der anderen Seite sie leicht aber bestimmt daran zu hindern versuchte. Es war Nadja.
Sie hatte völlig vergessen, dass sie gestern gemeinsam ins Bett gegangen waren. Nadja hatte Angst vor Gewittern. Wenn Gewitter war, schlief sie immer bei ihr – zumindest dann, wenn sie es mitbekam. Wahlweise kroch sie auch mitten in der Nacht zu ihr ins Bett, wenn sie vom lauten Donnergrollen geweckt wurde. Gestern aber waren es andere Gründe. Sie hatten sich Cinderella angesehen. Auf Video. Ihr Vater hatte es ihr einmal überspielt. Es war ein schöner Film. Es war sogar fast ein schöner Abend… fast, wenn man mal von den allgemeinen Rahmenbedingungen absah!
Sie hatten Chips gegessen, sie in Knoblauchsoße gedippt und sich einen warmen Kakao gekocht. Mareike hatte sogar auf Sekt verzichtet, obwohl es ihr schwer fiel…
Dafür hatte sie umso mehr geraucht, das glich dann alles wieder aus.
Sie strich ihrer schlafenden Tochter über die Wange.
Wie friedlich sie aussah, wie sie so da lag und schlief. Sie war mit einem grünen T-Shirt und einem lila Slip bekleidet. Ihre Haut war zart und braungebrannt.
Sie ist so schön. Wo hat sie das bloß her? Von mir? Ganz bestimmt nicht. Ich war nie so schön. Nicht so wie sie. Zärtlich fuhr sie mit der Hand durch ihr dunkles Haar, schmunzelte und deckte sie vorsichtig wieder zu, so dass sie nicht wach wurde.
Es waren Ferien und das arme Mädchen hatte ohnehin schon Sorgen genug momentan. Da musste sie nicht auch noch so früh aufstehen. Sollte sie sich doch wenigstens in Ruhe ausschlafen, so wie ihre Freundinnen und wie alle anderen Kinder es in den Sommerferien taten. Sollte ihr doch zumindest dieses kleine Stück Normalität erhalten bleiben. In ihrem Leben gab es sowieso schon so wenig davon. Wenn sie so darüber
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