Per Anhalter (German Edition)
Heimat, war im Begriff, zu einem Hort des Bösen zu verkommen, durch all die Schmierfinken von der Presse und die Propaganda. Die Menschen bekamen Anrufe von Leuten aus der Familie und von Verwandten und Freunden, von denen sie schon seit einer Ewigkeit nichts mehr gehört hatten. Manche legten Blumen vor dem Wald, der Polizeistation oder dem Haus des Polizisten nieder, während Pressefotografen alles vor die Linse nahmen, was ihnen irgendwie recht erschien.
Ahnungslose Bürger wurden interviewt und trugen das Gehörte an die fremden Leute weiter. Sollten sie doch sehen, was sie daraus machten.
Reinhard Wagner hatte sich an diesem Tag frei genommen. „Persönliche Gründe“.
Er stand mit Elli am Gartenzaun, sie unterhielten sich mit Leuten aus dem Dorf.
Inzwischen war bekannt geworden, dass Elli und Reinhard diejenigen waren, die als einzige die Fremden bemerkt hatten, und dass es Elli war, die Werner Steinbach, den Förster, darüber unterrichtet hatte.
Werner solle seit dem gestrigen Abend völlig „abgekackt“ sein.
Er soll das Krankenhaus zusammen geschrien und mehrfach mit Selbstmord gedroht haben hieß es.
Die Wahrheit war, dass Werner längst bei Verwandten in Dänemark war, gemeinsam mit seiner Frau. Er war psychisch schwer angeschlagen, doch er hatte weder geschrien, noch je mit Selbstmord gedroht. Im Gegenteil. Alles, was er wollte, war seine Ruhe. Er konnte nicht über das Erlebte sprechen, wollte es auch gar nicht. Er würde es müssen, sicher, aber er brauchte Zeit.
Er würde Christians Röcheln nie wieder aus seinem Kopf kriegen. Es verfolgte ihn bis tief in die Nacht, genau wie sein bleiches rundum pulsierendes Antlitz, die blutigen Tränen die über seine dreckverschmierten Wangen rannen, als er im Begriff war, sich vom Leben zu verabschieden, die Schwelle vom Diesseits in Jenseits zu übertreten. Die gurgelnden, würgenden Laute, als er mehr tot als lebendig dicke, gallertartige Klumpen zu husten begann…
Im Laufe des Tages verschwand ein Großteil der Polizei. Und nach und nach verschwanden alle Beamten. Sie hatten, wie es hieß, den kompletten Wald nach möglichen Hinweisen oder weiteren Opfern durchkämmt. Informationen waren spärlich. Die Presse durfte sich der Stelle, an der die Wohnwagen von Werner Steinbach und Christian Ingwersen gefunden wurden, bis auf 100 Meter Entfernung nähern. Der Bereich war bis auf Weiteres abgesperrt worden. Der Wald war am späten Nachmittag zu einem echten Mekka von Sensationslustigen Freaks geworden. Unter ihnen auch Verschwörungstheoretiker, Alienclubmitglieder und einfache Touristen, die zufällig in der Nähe waren und aus den Nachrichten im Radio oder aus dem Fernseher in ihrem Hotelzimmer von der gruseligen Geschichte Wind bekommen hatten. Mohrbüll war schön, jedoch keine typische norddeutsche Touristenhochburg. Dies änderte sich an diesem Nachmittag schlagartig. Erst am Abend löste sich der Trubel aus fremden Menschen allmählich auf. Zurück blieb ein nicht messbares und doch vorhandenes kollektives Gefühl, dass einer Katerstimmung gleichkam. Die Party war vorbei, Zeit, dem Ernst des Lebens wohl oder übel wieder ins Gesicht zu blicken. Bald würde sich niemand mehr für Mohrbüll interessieren. Das hier war nur eine Eintagsfliege, weiter nichts. Christian Ingwersen aber würde für immer tot sein. Mitten aus dem Leben gerissen, quasi ein Freund, ein Nachbar, ein Bewohner der kleinen Gemeinde, den groß und klein, alt und jung kannten und schätzten. Und irgendwie hatte man ein ungutes Gefühl wenn man nur darüber nachdachte, ins Bett zu gehen.
Der Wald war menschenleer, die Massen waren fort. Was, wenn die Verrückten zurückkamen. Wenn sie Rache wollten… Oder einfach nur weiter machten wie zuvor. Wie Vampire - wenn man ihnen Knoblauch vor die Nase hielt flüchteten sie, aber sobald die Luft wieder rein war, kehrten sie zurück...
In der Polizeidienststelle Flensburg gingen bis zum Abend rund 150 Hinweise von Leuten aus sämtlichen Teilen der Bundesrepublik ein. Man konnte meinen, diese komischen Leute seien bereits überall gewesen. Warum hatte nie vorher jemand etwas gesagt? Man hätte nie etwas Verdächtiges bemerkt hieß es. Sie hatten ja keinem etwas getan und so weiter, und so weiter. Aber jetzt, da sie die Phantombilder der Leute sahen oder von dem Geländewagen hörten, da dämmerte es ihnen halt wieder. Es war nichts, worüber sie sich sonst so im Alltag Gedanken machten. Eben erst jetzt, wo es zu spät war. Wirklich
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