Per Anhalter (German Edition)
sich in ein Taschentuch. Sie kannte solche Anfälle. Hin und wieder wurde sie einfach von hinten attackiert, erlebte eine scheußliche Vergewaltigung ihrer selbst, nur um hinterher dazusitzen und sich zu fragen: War´s das jetzt? War das jetzt alles? und dann langsam wieder zu sich zu kommen. Sie fühlte sich trotzdem dreckig. Benutzt und komplett ausgelaugt. Sie ging in die Küche, wo die Kaffeemaschine bereits grunzte. Sie bereitete die Kaffeemaschine immer schon am Vorabend für den nächsten Morgen vor. Das zumindest bekam sie auf die Reihe! Die Küche an sich hingegen nicht. Als sie das Schlachtfeld sah hätte sie am liebsten sofort wieder angefangen zu heulen.
Überall stand Geschirr herum. Zum Teil war es schon abgewaschen aber noch nicht weggeräumt, zum Teil war es schmutzig. Die Schüssel, in der am Vorabend die Chips waren, stand mit restlichem Inhalt neben der Spüle. Direkt dahinter die offene Tüte. Hatte sie Nadja nicht gebeten, den Verschlussclip zu benutzen?
Egal.
Auf dem Küchentisch standen ihre Hülsen, der Tabak und das Stopfgerät. Sie konnte es jetzt problemlos offen stehen haben, nicht wahr? David war ja fort… Obwohl sie in der Stube noch fertige Zigaretten hatte, stopfte sie sich selbst eine und betrachtete das elende Chaos in der Küche von ihrem Stuhl aus.
Auf dem Tisch lagen Postwurfsendungen auf einem Stapel. Sie wollte die Angebote noch ansehen. Viele davon waren längst viele Wochen alt. Warum konnte sie sich nicht einfach überwinden, sie in den Müll zu schmeißen. Es wäre ein einziger Gang mit einem Stapel Papier, weiter nichts. Auch zwei Figuren aus einem Ü-Ei standen dümmlich auf dem Tisch herum.
Sie hatte Nadja bestimmt schon zehnmal darum gebeten, sie in ihr Zimmer zu stellen, weil sie sie ansonsten entsorgen würde. Nichts davon war geschehen. Wie sollten ihre Kinder sie ernst nehmen, wenn sie immer nur große Töne spuckte und dann doch nichts unternahm. Auch die Kaffeetassen von ihren Eltern sowie ihre eigene standen noch genau so da wie an dem Nachmittag, als ihre Eltern gegangen waren.
Ihr wuchs das alles über den Kopf.
Ein riesiger Dschungel aus Staub, Müll und verdrecktem Geschirr.
Die Stelle zwischen den beiden Heizungsrohren auf dem Fußboden – auch wieder so eine Sache – immer wenn sie hier saß, dachte sie, sie müsste dort unbedingt mal mit dem Feudel langwischen.
Dort war eine riesige, klebrige Wollmaus. Es sah aus, als ob eines der Kinder mal Eistee oder Saft hier verschüttet, und den Fußboden nur grob mit einem Stück Küchenpapier abgewischt hatte, ohne dabei die Ecken mit sauber zu machen.
Einige Spritzer befanden sich auch auf der Tapete.
Dann die vielen Spinnweben an der Decke… oder an der Küchenlampe… oder, oder, oder… So konnte man endlos fortfahren. Eines Tages würden sie hier noch in ihrem eigenen Dreck ersticken. Sie schloss die Augen – wie immer – dann war die Welt noch am Erträglichsten. Die Zigarette schmeckte nicht. Sie hatte viel zu wenig Tabak verwendet und brannte direkt nach dem Anzünden schon fast bis zur Hälfte runter. Der Kaffee war fertig. Sie stand auf und holte sich eine der restlichen Tassen aus dem Küchenschrank. Gerade als sie ihn mit Kaffeesahne verfeinern wollte, klingelte es an der Tür. Ihr blieb fast das Herz stehen. Eine Vielzahl schlimmer Dinge schossen ihr durch den Kopf, gemischt mit einem winzigen Spritzer fast euphorischer Hoffnung. Vielleicht ist es David… Vielleicht… Wer immer vor der Tür stand – geduldig war er nicht. Sie hatte noch nicht einmal zu Ende gedacht, da klingelte es erneut.
Sie ging zur Tür. Je näher sie kam, desto mehr schwand ihre Hoffnung darauf, dass der Tag etwas Positives für sie bereithalten würde.
Erst in dem Moment, als sie die Tür öffnete, erinnerte sie sich daran, dass sie nichts anhatte als ihr langes Nachthemd und einen Schlüpfer.
Als sie sah, wer davor stand, kippte sie fast hinten über. In ihrem Kopf staute sich das Blut. Es schoss durch ihre Nase, hinter ihre Augen… ihr Mund trocknete aus und ihr Darm drohte sich unkontrolliert zu entleeren. Ihr Magen zog sich zusammen, als wollte er sich verstecken – eine gigantische Menge unangenehmer Gefühle ergoss sich in ihr.
Vor der Tür standen zwei Männer.
Sie trugen schwarze Hemden, auf denen in weiß das Wort POLIZEI stand. Der eine war groß, trug eine Brille und einen Vollbart und war ziemlich kräftig.
Der andere war ebenfalls ein wenig untersetzt, jedoch nur etwa halb so
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