Perdido - Das Amulett des Kartenmachers
auch der Erste, der diese Insel entdeckt?«, vergewisserte sich Rupert. »Ist es Admiral Rupert Lilywhite tatsächlich gelungen, auf einen noch unerforschten Landstrich zu stoßen?«
»Wollen mal sehen«, erwiderte Walter milde belustigt. »Komm mit, Hugo, wir werfen einen Blick auf unsere Karten.«
Unten in der Kajüte rollten sie die riesengroße Seekarte auf dem Boden aus. Eine halbe Stunde lang schaute Hugo zu, wie Walter die Karte studierte, Winkel maß und mit der Feder Linien zog. Wenn Walter einen Bogen malte, sah Hugo gut hin, und wenn Walter sich den Kopf kratzte, kratzte sich Hugo ebenfalls den Kopf. Dann schickte Walter seinen Neffen nach oben an Deck, um den Winkel der Sonne zu messen, und als Hugo wiederkam, stellte Walter einige Berechnungen an. Schließlich gingen beide wieder hoch.
»Nun?«, fragte Rupert, der schon ganz ungeduldig war. Die Matrosen versammelten sich hinter ihm.
»Ich bin alle Aufzeichnungen durchgegangen und habe sämtliche Berechnungen zweimal überprüft.« Walter nahm die Brille ab und wiegte den Kopf. Auch Hugo wiegte den Kopf. »Allen amtlich anerkannten Karten zufolge gibt es innerhalb von 200 Seemeilen rings um unsere Position kein bereits erforschtes Land.«
»HURRA!«, brüllten alle.
»Das muss gefeiert werden«, rief Rupert. »Hiermit gestatte ich meiner Mannschaft einen Humpen Bier pro Kopf.« Ihm schien nicht aufzufallen, dass die Männer bereits tüchtig becherten.
»Ich taufe diese Insel auf den Namen ›Rupertannien‹ und werde sie in mein Familienwappen aufnehmen. Nun lasst uns aber unverzüglich nach England zurücksegeln, um der Öffentlichkeit meine bahnbrechende Entdeckung zu präsentieren. Bald wird der berühmte Seefahrer Admiral Rupert Lilywhite in aller Munde sein, der kühne Entdecker Rupertanniens.«
Hugo und Walter wechselten einen ungläubigen Blick.
Hugo meldete sich als Erster zu Wort: »Sie wollen doch bestimmt nicht umkehren, ohne wenigstens einen Fuß auf die Insel gesetzt zu haben, Admiral!«
»Ach, ich glaube nicht, dass das wirklich nötig ist, oder doch?«
»Es ist sogar allgemein üblich, Admiral«, antwortete Walter. »Für gewöhnlich gilt ein Gebiet nicht als ordnungsgemäß entdeckt, wenn der Entdecker nicht wenigstens kurz an Land gegangen ist und sich umgesehen hat.«
»Ach ja?« Man hörte Rupert die Enttäuschung an. »Ich finde das ziemlich kleinlich. Ich meine, wo ich mir schon die beträchtliche Mühe gemacht habe, die Insel zu entdecken, erscheint es mir reichlich übertrieben, dass ich dort auch noch an Land gehen soll.«
»Es wäre auch nicht verkehrt, etwas von der Insel mitzubringen, um zu Hause vorführen zu können, um was für einen fremdländischen Ort es sich handelt«, gab Walter zu bedenken. »Kolumbus hat von den Westindischen Inseln beispielsweise Papageien und Kokosnüsse mitgebracht.«
»Demnach brauche ich einfach nur an Land zu gehen und ein paar Kokosnüsse einzustecken?«
»Die Kokosnuss ist ja nun schon entdeckt. Da würde ich lieber etwas Neuartiges mitbringen, etwas, das noch niemand kennt.«
»Was denn?«
»Das kann ich Ihnen nicht sagen.«
»Hören Sie, Mann, es besteht kein Anlass, so geheimnistuerisch zu sein«, entgegnete Rupert verstimmt.
»Ich kann Ihnen nicht sagen, was Sie mitbringen sollen, Admiral«,Walter konnte sich das Lachen kaum verbeißen, »weil ich keine Ahnung habe, was es sein könnte.«
»Aha!«, rief Rupert triumphierend. »Wenn Sie keine Ahnung haben, was es sein könnte, woher wollen Sie dann wissen, dass es keine Kokosnuss ist?!« Ohne eine Entgegnung abzuwarten, wandte er sich an die übrige Besatzung.
Walter warf Hugo einen Blick zu und zuckte die Achseln.
»Entschuldigung, Männer, wenn ihr mir bitte kurz euer Ohr leihen wollt«, hob Rupert an. »Ich habe bekanntlich soeben diese prächtige Insel entdeckt, oder diesen Erdteil oder was immer es sein mag.« Die Kunstpause war für Jubelrufe vorgesehen.
Stille.
»Wie dem auch sei, es scheint da eine Formalität zu geben, die besagt, dass irgendwer die Insel betreten haben muss, ehe wir wieder heimsegeln dürfen. Darum hätte ich gern ein paar Freiwillige, die rasch an Land gehen und ein paar Kokosnüsse holen. Aber bitte nicht alle auf einmal.«
Hugo hatte angenommen, dass die Matrosen es kaum erwarten konnten, einen unbekannten Landstrich zu erkunden. Schließlich waren es alles tollkühne Abenteurer.
Doch sie blickten auf ihre Stiefel und betrachteten interessiert ihre Fingernägel. Manche pfiffen vor sich
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