Perdido - Das Amulett des Kartenmachers
Stunde drehte Hugo die Sanduhr um und rief die Zeit aus. Aus Stunden wurden Tage, aus Tagen Wochen, aus Wochen Monate. Das Meer lag wie ein uferloser Spiegel vor ihnen, die Heimat war nur noch ein verblassender Traum. Hugo glaubte kaum noch daran, dass es irgendwo noch etwas anderes gäbe als ihr kleines Schiff und seine Besatzung.
Da stieß das Schiff eines schönen Tages mit etwas zusammen.
8. Kapitel
E
in dröhnendes Krachen ließ die Kajüten unter Deck erbeben. Das Schiff schlingerte und mehrere Seeleute fielen hin.
»Sind wir endlich auf Land gestoßen?«, keuchte Hugo.
»Ich weiß nicht«, antwortete Walter. »Komm, wir sehen mal nach.«
Sie liefen an Deck. Die Mannschaft war schon im Bug versammelt und spähte steuerbords ins Wasser. Hugo und Walter drängelten sich bis an die Reling durch. Nirgends war Land in Sicht, das Meer war glatt und uferlos, das Wasser tief und türkisfarben.
»Matrose Swipe!« Admiral Lilywhite tauchte in der Tür seiner Kajüte auf. »Worauf sind wir aufgelaufen?«
Swipe zuckte die Achseln. »Ich seh nix, Admiral.«
» Irgendetwas muss es ja sein, Dummkopf.«
Da ging ein Ruck durch das Schiff und es krachte noch einmal – diesmal auf der anderen Seite. Alles lief an die Backbordreling. Doch wieder gab es nichts zu sehen außer ruhigem Meer und tiefem Wasser.
»Vielleicht ist es ja ein Geist«, meinte Rockford. Für so einen großen, starken Mann hatte er eine unpassende Piepsstimme.
Hugo erwartete, dass ihn die anderen Seeleute auslachen würden.
»Ja, das wird’s sein«, pflichtete ihm Oliver Muddel stattdessen bei. »Und zwar der, äh, … der Teufel aus der Tiefe.«
Hugo war zwar einigermaßen sicher, dass sich Matrose Muddel diese Bezeichnung gerade eben ausgedacht hatte, aber die anderen Seeleute nickten wissend.
»Der Teufel aus der Tiefe war’s auch, der zwei von Da Gamas Schiffen im Mittelmeer versenkt hat«, sagte Hawkeye.
»Jawoll!« Swipe nickte. »Der verschlingt ganze Schiffe.«
»Ich hab ihn sogar schon mal gesehen!«, behauptete Rusty Cleaver. »Sein Maul ist so breit wie dieser Kutter hier. Und seine Fangarme sind doppelt so lang.«
Hugo blickte zu Onkel Walter auf. Der zwinkerte ihm zu und schüttelte den Kopf.
»Seht mal, da vorne!«, rief jemand. »Da ist er!«
Etwa dreißig Meter vor dem Bug sprang ein Riesenfisch in anmutigem Bogen aus dem Wasser und tauchte wieder unter. Es verschlug ihnen den Atem.
»Alle Mann an die Harpunen!«, brüllte Oliver Muddel dann. »Der Teufel aus der Tiefe sucht uns heim!«
Abermals schnellte das Geschöpf aus dem Wasser, diesmal so nah, dass Hugo es besser erkennen konnte. Das Tier war ungefähr zehn Meter lang. Sein Leib war rund und verjüngte sich nach hinten tropfenförmig. Es besaß einen breiten Fischschwanz und eine einzelne, gebogene Rückenflosse, dazu vier große Schwimmflossen, mit denen es sich im Wasser fortbewegte. Aus einer Öffnung oben auf dem Kopf sprühte Meerwasser, die Schnauze war länglich und vorn stumpf.
Das Geschöpf tauchte unter dem Schiff hindurch. Es krachte und ruckte wieder, dann schnellte das Tier auf der anderen Seite wieder aus dem Wasser.
»Tötet den Teufel!«, befahl Oliver Muddel. »Er will uns versenken!«
»Halt!«, rief Hugo. »Das ist kein Teufel.«
»Was soll es denn sonst sein?« Das kam von Rusty.
»Hast du nicht eben gesagt, der Teufel aus der Tiefe hat lange Fangarme und ein Maul, so breit wie dieses Schiff?«
Rusty war verunsichert.
»Hatte er ja auch, als ich ihn zuletzt gesehen hab«, behauptete er ausweichend. »Aber er … er kann jede Gestalt annehmen, die er will.«
»Richtig!«, stimmten ihm die anderen Matrosen wie aus einem Mund zu. »Der Teufel tarnt sich bloß!« Erschaudernd gingen sie wieder daran, die Harpunen schussbereit zu machen.
»Das ist trotzdem kein Teufel«, widersprach jetzt auch Walter. »Das ist ein Porpoisaurier – eins der sanftmütigsten Meeressäugetiere überhaupt. Von denen gibt es wahrscheinlich auf der ganzen Welt nur noch eine Handvoll. Wenn ihr diesen hier umbringt, stirbt die Tierart noch schneller aus. Außerdem will er uns nicht versenken, er will bloß spielen. Er hält unser Schiff für einen Artgenossen.«
Die Seeleute schenkten ihm keine Beachtung. Rockford griff zur Harpune und holte damit wie mit einem Speer weit aus. Hugo musste ihm zuvorkommen. Er griff sich ein Messer, das Rusty liegen lassen hatte, und kappte ein Tau. Ein Segel löste sich und begrub Rockford unter einer Leinwandlawine.
Fluchend
Weitere Kostenlose Bücher