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Perdido Street Station 02 - Der Weber

Perdido Street Station 02 - Der Weber

Titel: Perdido Street Station 02 - Der Weber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: China Miéville
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keine Gelegenheit gehabt, Lin eine Nachricht zu schicken, und er hatte sie seit Tagen nicht gesehen. An einer Pumpe in Flyside hatte er sich, so gut es ging, gewaschen, aber noch immer umwehte ihn der Gestank der Kanalisation. Lemuel hatte sie den ganzen Tag dort festgehalten. Es wäre zu gefährlich, meinte er, sich bei Tageslicht draußen sehen zu lassen.
    »Wir müssen zusammenbleiben«, hatte er gesagt, »bis wir wissen, wie es weitergeht. Zumal wir nicht gerade eine unauffällige Truppe sind.« Also hatten sie alle vier in der Kloake gesessen, trotz Übelkeit und Brechreiz einen Imbiss hinuntergewürgt, sich gestritten, Pläne gemacht und wieder verworfen. Man konnte sich nicht einigen, ob es klug war, dass Isaac sich von der Gruppe trennte und Lin besuchte. Er bestand darauf, allein zu ihr zu gehen. Derkhan und Lemuel schimpften über seine Dummheit und sogar Yaghareks Schweigen wirkte vorwurfsvoll. Doch Isaac ließ sich nicht umstimmen.
    Endlich, als es kühler wurde und ihre Geruchsnerven längst abgestumpft waren, brachen sie auf. Es war ein langer, anstrengender Marsch durch New Crobuzons unterirdische Kanäle gewesen. Lemuel hatte die Führung übernommen, die Pistole im Anschlag. Isaac, Derkhan und Yagharek schleppten sich mit dem Konstrukt, dessen Gehwerkzeuge in dem Fäkalbrei nicht zu brauchen waren. Es war schwer und glitschig und hatte Beulen und Schrammen abbekommen, wie sie selbst auch, wenn sie immer wieder in den Dreck fielen, fluchten und Hände und Finger an den rauen Steinwänden aufschürften. Doch Isaac wollte es keinesfalls zurücklassen.
    Sie bewegten sich mit der gebotenen Wachsamkeit, Eindringlinge in dem geheimen und hermetischen Ökosystem der Kanalisation. Sorgsam vermieden sie es, den Herren dieses Reichs zu begegnen. Zu guter Letzt stiegen sie hinter Saltpetre Station blinzelnd und tropfend in die Abenddämmerung hinauf.
    Ein verlassener Schuppen an der Bahnstrecke durch Griss Fell bot ihnen Unterschlupf. Es war ein kühnes Versteck. Kurz bevor die Sud Line bei Cockscomb Bridge den Tar überquerte, bildeten Schutt und Trümmer eines eingestürzten Gebäudes einen Hügel, der wie ein Gleisbett die Hochbahn zu tragen schien. Auf der Kuppe, eine dramatische Silhouette vor dem Abendhimmel, stand der Bretterschuppen.
    Sein Zweck war rätselhaft, augenscheinlich stand er seit Jahren leer. Müde waren sie den Hang hinaufgekraxelt, das Konstrukt vor sich herschiebend und durch den zerrissenen Draht, der Unbefugte am Betreten der Gleise hindern sollte. In den Minuten zwischen den Zügen krochen sie durch den schmalen Saum aus büscheligem, hartem Gras neben den Schienen und öffneten die Tür in die staubige Dunkelheit der Hütte.
    Dort endlich konnten sie aufatmen.
    Die Wände des Schuppens waren krumm und schief, flüchtig zusammengenagelt, die Bretter verzogen und von Streifen Himmel unterbrochen. Aus den leeren Fensterhöhlen konnten sie beobachten, wie in beiden Richtungen Züge vorbeistampften. Unter ihnen, nach Norden hin, krümmte der Tar sich zu dem engen S, dessen Bögen Petty Coil umfassten und Griss Twist. Der Himmel verdunkelte sich zu einem schmuddeligen Blauschwarz.
    Die bunten Lampions von Vergnügungsbooten flimmerten auf dem Fluss. Im Osten blickte der Kolossalbau des Parlaments streng auf sie und die Stadt hinunter. Von Strack Island ein kleines Stück stromabwärts blakten die chymischen Lichter der alten Schleusen und gossen ihren öliggelben Schein auf das Wasser. Zwei Meilen in nordöstlicher Richtung, vom Parlamentsgebäude fast verdeckt, krallten die Rippen in den Himmel, elfenbeinerne Urzeitrelikte.
    Aus dem Fenster in der anderen Wand konnte man die spektakuläre Abenddämmerung bewundern, erst recht atemberaubend nach einem Tag in den Abgründen unter der Stadt. Eben war die Sonne unter den Horizont gesunken. Durch den Himmel zog sich wie ein scharfer Schnitt die Gleistrosse, die sich durch den Milizturm von Flyside fädelte. Die Stadt erschien als Scherenschnittkulisse vor hellem Hintergrund: ein Schornsteinwald, Dächergezack im Schatten gewendelter Türme von Kirchen obskurer Gottheiten, hohe, priapische Fabrikschlote, die Rauch und Funkengarben in die Luft schnoben, monolithische Wohntürme wie gigantische Grabsteine aus Beton, dazwischen der borstige Flaum der Parkanlagen.
    Sie hatten ausgeruht, sich und ihre Kleider so gut wie möglich gesäubert. Isaac fand endlich Zeit, den Stumpf von Derkhans Ohr zu verarzten. Wie sie sagte, fühlte sie einen dumpfen

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