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Perdido Street Station 02 - Der Weber

Perdido Street Station 02 - Der Weber

Titel: Perdido Street Station 02 - Der Weber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: China Miéville
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schließe fest den Schnabel, um nicht zu schreien, und ich beginne zu reißen.
     
    Viel später, Stunden später, in dunkelster Nacht, steige ich wieder hinab durch den lichtlosen Treppenschacht und trete hinaus. Eine einsame Droschke rumpelt die leere Straße entlang, hinter ihr schlägt die Stille zusammen. Gegenüber trieft gelbliches Licht von einer blakenden Gaslaterne herab auf das Katzenkopfpflaster.
    Eine dunkle Gestalt hat auf mich gewartet, ein Mann. Er tritt in den Tümpel aus Licht und bleibt stehen, sein Gesicht im Schatten. Er winkt mir. Im ersten Moment denke ich an alle meine Feinde und frage mich, wer dieser Mann ist. Dann erkenne ich den mächtigen Zangenarm einer Gottesanbeterin, mit dem er mich grüßt.
    Ich stelle fest, ich bin nicht überrascht.
    Jack Gotteshand streckt wieder seinen Remadearm aus, und mit einer langsamen, ominösen Bewegung bedeutet er mir, ich soll zu ihm kommen.
    Er lädt mich ein. In seine Stadt.
    Ich begebe mich in die schwache Lichtbahn, die quer über die Straße fällt.
    Ich sehe nicht, ob er zusammenzuckt, als er, statt nur meine Silhouette, mich nun deutlich erkennen kann.
    Mir ist bewusst, welchen Anblick ich biete.
    Mein Gesicht eine Masse rohen, zerklüfteten Fleisches, blutend aus hundert winzigen Poren, wo die Federn aus der Haut gerissen wurden. Vereinzelte Daunen, übersehen worden, ragen hervor wie Bartstoppeln. Meine Augen blicken aus kahler, rosiger, wie von tausend dicken Nadeln zerstochener Haut; Blutrinnsale schlängeln sich über meinen Schädel.
    Meine Füße sind wieder mit schmutzigen Lumpen zusammengeschnürt, ihre verräterische Form verborgen. Die Federsäume, die am Rand der Hornschuppen sprossen, sind herausgerissen. Ich bewege mich vorsichtig, meine Lenden ebenso roh und frisch gerupft wie mein Kopf.
    Ich habe versucht, meinen Schnabel zu zerbrechen, aber er war zu hart.
    Ich stehe auf der Straße in meiner neuen Gestalt.
     
    Gotteshand lässt mir Bedenkzeit, aber nicht lange. Mit einem weiteren trägen Wink erneuert er seine Einladung.
    Er ist großzügig, aber ich muss ablehnen.
    Er bietet mir die Schattenwelt. Er bietet mir an, sein Schwellendasein zu teilen, seine Randexistenz in seiner Zwischenstadt. Seine obskuren Kreuzzüge und anarchische Rache. Seine Missachtung von Türen.
    Entflohener Remade, fReemade. Nichts davon. Er passt nicht. Er hat New Crobuzon zu einer neuen Stadt gemacht, und jetzt strebt er danach, sie vor sich selbst zu retten.
    Er sieht ein weiteres gebrochenes Halbwesen, ein weiteres erschöpftes Relikt, das er vielleicht gewinnen kann für seinen absurden Kampf, noch jemanden, für den die Existenz in jeglicher Welt unmöglich ist, ein Paradoxon, ein Vogel, der nicht fliegen kann. Und er bietet mir einen Ausweg, die Aufnahme in seine Ungemeinschaft, seine Marginalität, seine Allerleistadt. Der violente und ehrenhafte Ort, von dem aus er seine Schläge führt.
    Er ist großzügig, aber ich verzichte. Die seine ist nicht meine Stadt. Sein Kampf ist nicht mein Kampf.
    Ich muss seiner Bastardwelt den Rücken kehren, dieser Brutstätte eines grotesken Widerstands. Ich lebe an einem simpleren Ort.
    Denn er ist im Irrtum.
    Ich bin kein erdenschwerer Garuda mehr. Jener ist tot. Dies ist ein neues Leben. Ich bin kein Halbgeschöpf mehr, ein fehlgeschlagenes Weder-noch.
    Ich habe die irreführenden Federn aus meiner Haut gerissen und sie glatt gemacht, und unter der Vogelmaske bin ich meinen Mitbürgern gleich. Ich kann frei und unverstellt in einer Welt leben.
    Ich signalisiere ihm meinen Dank und Lebewohl und wende mich ab, beginne meinen neuen Weg und gehe nach Osten, in Richtung des Universitätscampus und der Ludmead Station, durch meine Welt aus Ziegeln, Mörtel, Teer, Basaren und Märkten, schwefelig erleuchteten Straßen. Es ist Nacht, und ich muss mich eilen, in mein Bett zu kommen, mein Bett zu finden, ein Bett zu finden in dieser meiner Stadt, wo ich mein unverstelltes Leben leben kann.
    Ich wende mich ab von Gotteshand und gehe hinein nach New Crobuzon, dieses ungetüme Gebilde aus Architektur und Geschichte, diese Komplexität aus Geld und Elend, diesen profanen, dampfbetriebenen Moloch. Ich wende mich ab und lasse mich umfangen von der Stadt, meinem Zuhause, nicht Vogel oder Garuda, nicht trauriges Zwitterwesen.
    Ich wende mich ab und gehe in die Stadt, als ein Mensch.

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