Perdido Street Station 02 - Der Weber
nachließ. Sie fühlten sich schwindelig, benommen. Als ob sie in Tränen ausbrechen wollten.
Ungesehen, dicht unter der Wolkendecke, segelte ein Schatten ohne Eile über sie hinweg. Sobald die Richtung deutlich wurde, in der sie sich bewegten, verharrte er, Kreise ziehend, auf der Stelle. Als Isaac und Lin und Derkhan immer weiter gingen, regte er die Flügel und schoss davon, in Richtung des weiten Landes jenseits der Stadtgrenzen.
Sterne erschienen, und Isaac nahm flüsternd Abschied vom Glock’ und Gockel, von Aspic Bazaar und Ketch Heath und seinen Freunden.
Es blieb warm, während sie den Gleisen folgend nach Süden gingen, durch ein weitläufiges Industriegebiet. Passanten, die auch hier unterwegs waren, stolperten fluchend über das Unkraut, das sich von den umfriedeten Parzellen auf den Bürgersteig vorarbeitete. Isaac und Derkhan geleiteten Lin vorsichtig durch die Randgebiete von Echomire und Kelltree, immer weiter Richtung Süden, die Gleise neben sich zum Fluss hinunter.
Der Gross Tar, romantisch schimmernd im Licht der Gas- und Neonlampen, die Verschmutzung seiner Fluten verborgen unter silbrig blinkendem Wellengekräusel: An den Kais ankerten dicht an dicht Vollschiffe mit beschlagenen Segeln an turmhohen, schwanken Masten neben Dampfschiffen, die ölig schillernde Bilge ins Wasser seichten, Kauffahrern mit Gespannen gelangweilter Meerwyrmen, die auf den starken Trensen kauten, und topplastigen Fabrikfrachtern, mit Kränen und Dampfhämmern bestückt. Schiffe, für die New Crobuzon nur ein Halt auf einer endlosen Reise war, ein Hafen von vielen.
Im Cymek nennen wir die kleinen Begleiter der Mondin die Mücken. Hier in New Crobuzon sind es ihre Töchter.
Das Zimmer ist voll vom Licht der Mondin und ihrer Töchter, doch sie sind die einzigen Bewohner.
Ich stehe dort seit langem und halte Isaacs Brief in der Hand.
Ich hörte die Leere des alten Hauses schon auf der Treppe. Die Echos hallten zu lange zwischen Wänden und Dach. Bevor ich noch die Hand nach dem Türknauf ausstreckte, wusste ich, dass ich die Dachkammer verlassen finden würde.
Ich war Stunden fortgeblieben, suchte eine falsche, illusorische Freiheit in der Stadt.
Mein Umherschweifen führte mich in den grünen Park von Sobek Croix, von Wolken aufgeregter Insekten umtanzt vorbei an den künstlich angelegten Teichen mit überfütterten Wasservögeln. Ich besichtigte die Ruinen des kleinen Klosters, des pittoresk verfallenen Gemäuers, das man stolz im Herzen des Parks als Sehenswürdigkeit präsentiert. Wo romantische Vandalen die Namen ihrer Liebsten in bemooste Steine ritzen. Der Gott, dem es geweiht war, starb.
Manche Leute kommen des Nachts, um der toten Gottheit Ehre zu erweisen. Was für eine dürftige, verzweifelte Religion.
Ich bin auch in Howl Barrow gewesen. Und in Lichford. Ich stand vor einer grauen Mauer in Barrackham, der bröckelnden Schale einer toten Fabrik, und habe sämtliche Graffiti gelesen.
Ich war leichtsinnig. Ließ die gebotene Vorsicht außer Acht.
Ich fühlte mich fast trunken von dieser kleinen Kostprobe Freiheit und hungerte nach mehr.
Deshalb war es Nacht, als ich zurückkehrte, zu der verlassenen Kammer unter dem Dach und Isaacs brutalem Verrat.
Welcher Bruch von Vertrauen, welche Grausamkeit.
Noch einmal falte ich den Brief auseinander (ignoriere Derkhans kümmerliche, bemühte Zeilen, wie ein paar Stäubchen Zucker über giftiger Speise). In ihrer immensen Spannung winden die Worte sich fast auf dem Papier. Ich kann Isaac vor mir sehen, wie er sich bemüht, so viel in seine Worte hineinzulegen. Unumwundene Ehrlichkeit. Zorn, strenge Missbilligung. Aufrichtiges Bedauern. Objektivität. Und etwas mühsame Kameradschaftlichkeit, eine verschämte Entschuldigung.
… habe heute Besuch bekommen …, lese ich, … unter den gegebenen Umständen …
Unter den gegebenen Umständen. Unter den gegebenen Umständen werde ich deine Nähe fliehen. Ich werde mich abwenden und dich verurteilen. Ich werde dich allein lassen mit deiner Schuld, ich werde dein Innerstes erkennen und ich werde weitergehen und ich werde dir nicht meine helfende Hand reichen.
… werde ich nicht fragen: »Wie konntest du das tun?« …, lese ich weiter, und plötzlich fühle ich mich elend, wirklich elend, nicht als ob ich ohnmächtig werde oder mich übergeben muss, sondern als ob ich sterbe.
Es zwingt mich zu schreien.
Ich muss schreien. Ich kann nicht aufhören, ich will nicht aufhören. Ich schreie und
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