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Perdido Street Station 02 - Der Weber

Perdido Street Station 02 - Der Weber

Titel: Perdido Street Station 02 - Der Weber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: China Miéville
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schwebten. Er begriff, wie viel Geduld Derkhan gezeigt hatte, und sah ein, dass ihre Zeit hier abgelaufen war.
     
    »Gottschiet, Isaac«, sagte sie beschwörend, »ich weiß, es waren nur ein paar Monate, aber – er ist dein Freund, oder nicht? Wir können ihn nicht – können wir ihn einfach hier allein zurücklassen?« Sie versuchte, in seinem Gesicht zu lesen. »Ist es – worum geht es denn? Ist es so schlimm? So unverzeihlich, dass es alles andere aufwiegt? Ist es so furchtbar?«
    Isaac schloss die Augen. »Nein – ja. Es ist nicht so einfach. Ich erkläre es dir unterwegs.
    Ich werde ihm nicht helfen. Darauf läuft es hinaus. Ich kann es nicht, ich kann es einfach nicht. Und sehen will ich ihn auch nicht. Also gibt es keinen Grund zu warten. Wir können gehen.
    Lass uns nicht noch mehr Zeit verlieren.«
     
    Derkhan erhob Einwände, aber ohne rechten Nachdruck. Während sie noch sagte, sie wäre nicht sicher, ob wir das Richtige tun, packte sie ihre kleine Tasche mit Habseligkeiten, Kleidung, Notizbuch. Isaacs Entschlossenheit hatte sie angesteckt.
    Sie warf ein paar Zeilen auf Isaacs Brief, ohne ihn zu öffnen. Viel Glück, schrieb sie. Wir sehen uns wieder, irgendwann. Tut mir leid, dass wir uns nicht verabschieden können. Du kennst dich aus. Du weißt, was du tun musst. Sie hielt den Stift in der Schwebe, wusste nicht, wie sie schließen sollte, dann schrieb sie Derkhan. Sie legte den Brief wieder auf den Boden, an die alte Stelle.
    Sie nahm ihren breiten Schal um, ließ das frisch gefärbte schwarze Haar wie Öl über die Schultern fließen. Es hakte an dem Schorf der Wunde, wo ihr Ohr gewesen war. Sie schaute kurz aus dem Fenster, hinter dem der Himmel sich mit Abendwolken bezog, dann wandte sie sich ab, legte den Arm um Lin und stützte sie auf dem Weg zur Tür.
    Langsam stiegen sie und Lin und Isaac die Treppe hinunter.
     
    »Es gibt ein paar Typen drüben in Smog Bend«, sagte Derkhan. »Flößer. Sie nehmen uns nach Süden mit, ohne groß Fragen zu stellen.«
    »Kommt nicht in die Tüte!«, zischte Isaac. Seine Augen funkelten im Schatten der Kapuze.
    Sie standen am Ende der Straße, wo vor wenigen Stunden der Eselskarren den ballspielenden Kindern als Tor gedient hatte. Die warme Abendluft war geschwängert mit Gerüchen. Aus einer Querstraße tönten Schimpfen und schrilles Gelächter. Krämer und Hausfrauen und Schmiede und kleine Gauner standen schwatzend an Straßenecken. Unter dem Fauchen von hundert verschiedenen Arten Energie gingen die Lichter an. Flammen in allen Farben des Spektrums flackerten hinter satiniertem Glas.
    »Kommt nicht in die Tüte!«, wiederholt Isaac. »Nicht landeinwärts … Wenn schon weg, dann richtig weg. Wir gehen nach Kelltree. Zu den Piers.«
    Sie wanderten nach Südwesten, zwischen Saltbur und Mog Hill, drückten sich durch die belebten Straßen: ein seltsames Trio. Ein Bettler, untersetzt, groß, der sein Gesicht versteckte, eine attraktive schwarzhaarige Frau und ein von Kopf bis Fuß verhüllter Krüppel, der, von seinen Begleitern halb gezogen, halb geschoben, zwischen ihnen einherschlurfte.
    Bei jedem Konstrukt, das Dampfwolken ausstoßend vorbeistapfte, zogen sie unbehaglich die Köpfe ein. Isaac und Derkhan hielten die Augen niedergeschlagen, unterhielten sich mit gedämpfter Stimme. Wenn sie unter Gleistrossen hindurchgingen, schauten sie unbehaglich in die Höhe, als könnte die Miliz, die oben in ihren Gondeln hin- und hersauste, sie aus dieser Höhe wittern. Sie mieden die Blicke der Männer und Frauen, die herausfordernd an Straßenecken lungerten.
    Es war, als bewegten sie sich die ganze Zeit mit angehaltenem Atem. Der Weg war lang und mühsam. Das Adrenalin, das in großer Menge durch ihren Körper kreiste, machte sie fahrig und zittrig.
    Sie schauten sich beim Gehen um, nahmen in sich auf, was sie konnten, als wären ihre Augen Kameras. Isaac fügte seinem Erinnerungsschatz Opernplakate hinzu, die sich zerfledert von Mauern lösten, Spiralen aus Stacheldraht und mit Glasscherben gespickte Mauerkronen, die Arkaden der Bahnstrecke nach Kelltree, die von der Dexter Line abzweigte und über die Dächer von Sunter und Bonetown hinwegstelzte.
    Er hob den Blick zu den Rippen, die sich rechter Hand gewaltig emporkrümmten, und versuchte, sich ihre genauen Maße ins Gedächtnis zu rufen, bis auf etliche Stellen hinter dem Komma.
    Mit jedem Schritt, den sie taten, lösten sie sich von der Stadt. Sie konnten spüren, wie New Crobuzons Anziehungskraft

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