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Perdido Street Station 02 - Der Weber

Perdido Street Station 02 - Der Weber

Titel: Perdido Street Station 02 - Der Weber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: China Miéville
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gesunken, seine Augen waren glasig, der Knebel speichelnass.
    Sie mussten ihn mitnehmen, und zwar ohne Aufsehen zu erregen.
    Isaac hatte sich mit Yagharek darüber beraten, halblaut, sodass der alte Mann es nicht hören konnte. Sie hatten keine Mittel, um ihn zu betäuben, und Isaac war kein Thaumaturg, der eben einmal die Finger durch den Schädel in Andrejs Gehirn schieben konnte und sein Bewusstsein vorübergehend ausschalten.
    Sie waren gezwungen, auf die drastischeren Methoden zurückzugreifen, die Yagharek zu Gebote standen.
    Der Garuda dachte zurück an Shankell und die Blutgruben, an die »Milchkämpfe«, die mit Unterwerfung oder Bewusstlosigkeit endeten statt mit dem Tod. Er erinnerte sich an die Techniken, die er perfektioniert hatte, mit Rücksicht auf die physiologischen Eigenheiten seiner verschiedenartigen Gegner, zu denen auch Menschen gehörten.
    »Er ist ein alter Mann!«, zischte Isaac. »Und er ist todkrank, er hat nicht mehr viel Widerstandskraft. Sei vorsichtig.«
    Yagharek schob sich an der Wand entlang zu der Stelle, wo Andrej lag und ihm mit der dumpfer Vorahnung von etwas Furchtbarem entgegensah.
    Es gab ein kurzes Aufbäumen, dann kniete Yagharek hinter Andrej und hatte den Kopf des alten Mannes in die linke Armbeuge geklemmt. Andrej stierte Isaac mit hervorquellenden Augen an, wegen des Knebels konnte er nicht schreien. Isaac – entsetzt, schuldbewusst, sich selbst verachtend – konnte seinem Blick nicht ausweichen. Er schaute ihn an und wusste, dass der alte Mann glaubte, sein letztes Stündlein habe geschlagen.
    Yaghareks rechter Ellenbogen fuhr herab und traf mit brutaler Präzision den Hinterkopf genau an der Stelle, wo die Halswirbelsäule in den Schädel eintritt. Andrej stieß ein kurzes, gepresstes Bellen aus, das sich anhörte wie ein Erbrechen. Seine Augäpfel rollten nach oben, die Lider sanken herab. Yagharek hielt ihn weiter fest, drückte den knochigen Ellenbogen fest in weiches Fleisch und zählte Sekunden.
    Endlich ließ er Andrej auf den Boden sinken.
    »Er wird aufwachen«, erklärte er. »Vielleicht in zwanzig Minuten, vielleicht in zwei Stunden. Ich muss ihn beobachten. Ich kann ihn wieder schlafen legen, aber wir müssen vorsichtig sein – zu oft, und wir schaden seinem Gehirn.«
    Sie zogen Andrejs reglosem Körper ein paar Lumpen über und nahmen ihn zwischen sich, jeder legte sich einen Arm um den Nacken. Der alte Mann war nur mehr ein Knochengerüst, von der Krankheit ausgezehrt. Er wog erschreckend wenig.
    Sie bewegten sich im Gleichschritt, trugen mit dem freien Arm gemeinsam den Sack mit den Maschinenteilen, behutsam, als wäre es eine Reliquie, der Leib eines Heiligen. Dazu bemühten sie sich, ihre alberne, beschwerliche Tarnung aufrechtzuerhalten und gingen gebückt, schlurfend, wie Bettler. Isaacs Gesicht, von der Kapuze beschattet, war immer noch übersät von den verschorften Schnitten seiner brutalen Rasur. Yagharek hüllte seinen Kopf und seine Füße in alte Lumpen, ließ nur einen schmalen Schlitz für die Augen. Er sah aus wie ein Aussätziger, der seine von der Seuche zerfressene Haut verbarg.
    Zusammen bildeten sie ein abstoßendes Trio, die wandelnde Allegorie dreier Menschheitsübel: Armut, Krankheit, Trunksucht.
    An der Tür schauten sie sich noch einmal um. Beide hoben die Hand als Abschiedsgruß für Derkhan. Isaac schaute zu Pengefinchess hinüber, nickte ihr zu und zog fragend die Augenbrauen hoch – Sieht man sich mal wieder?, konnte das heißen oder Wirst du uns helfen? Pengefinchess antwortete mit einer unverbindlichen Geste der großen Flossenhand und schaute zur Seite.
    Isaac wandte sich mit zusammengepressten Lippen ab.
    Er und Yagharek machten sich auf zu ihrer gefahrvollen Wanderung durch die Stadt.
    Die Eisenbahnbrücke kam nicht in Frage. Sie fürchteten, ein schlecht gelaunter Lokführer könnte mehr tun, als sie nur mit der Dampfpfeife anblasen. Vielleicht merkte er sich ihre Gesichter und berichtete seinem Vorgesetzten an einer der nächsten Haltestellen oder in der Perdido Street Station selbst, dass drei traurige Idioten auf den Gleisen herumirrten und den Zugverkehr behinderten.
    Das Risiko war zu groß. Stattdessen kletterten sie den Geröllhang neben dem Gleis hinunter und hielten krampfhaft den bewusstlosen alten Mann fest, der schlaff dem Bürgersteig unten entgegenrutschte.
    Es war heiß, brütend heiß, aber nicht die Hitze, die wie Feuer auf der Haut brennt, sondern ein Fehlen von etwas, ein enormer, die ganze Stadt

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