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Perdido Street Station 02 - Der Weber

Perdido Street Station 02 - Der Weber

Titel: Perdido Street Station 02 - Der Weber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: China Miéville
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überarbeiteten Mönch, der herbeigeeilt kam und nach ihrem Begehr fragte, hatte sie von ihrem todkranken Vater vorgeschluchzt, der verschwunden war – in die Nacht hinausgewankt, um zu sterben – und der, wie man ihr gesagt hatte, hier zu finden sein könnte, bei diesen Engeln des Erbarmens. Der Mönch war beschwichtigt und ein wenig gebauchkitzelt wegen der Würdigung seiner selbstlosen Güte, er erlaubte Derkhan zu bleiben und nach dem vermissten Vater zu suchen. Und Derkhan fragte, wo die Schwerkranken wären, weil doch, erklärte sie, wieder unter Tränen, das Väterchen an der Schwelle des Todes stünde.
    Der Mönch hatte sie wortlos durch die Flügeltüren am Ende des Saals gewiesen.
    Derkhan ging hindurch und betrat einen Limbus, einen Ort des verlängerten Sterbens, wo die einzige Linderung, die einzige Waffe gegen Schmerz und Erniedrigung, reines Bettzeug war, in dem sich keine Wanzen tummelten. Die junge Schwester, die durch den Saal wanderte und mit einer ihren Zügen eingeprägten Miene endloser resignierter Fassungslosigkeit auf das Leiden schaute, blieb gelegentlich stehen, um einen Blick auf das Krankenblatt am Fußende jeden Bettes zu werfen und sich zu vergewissern, dass ja, der Patient im Sterben lag, und nein, immer noch nicht gestorben war.
    Derkhan senkte den Blick und schlug ebenfalls eine der Mappen auf. Sie fand die Diagnose und die Medikation.
    Lungenfäule, las sie, zwei Einheiten Laudanum / 3 Std. geg. Schmerzen. Darunter, in anderer Handschrift: Kein Laudanum vorh.
    Im nächsten Bett war das nicht verfügbare Medikament Sporwasser, daneben Kalziach-Sudorifidum, das, falls Derkhan das Blatt richtig gelesen hatte, die Patientin in acht Gaben von dem Fraß an ihren Eingeweiden heilen würde. So ging es weiter, den ganzen Saal entlang, eine sinnlose Liste von Dingen, die Leiden beendet hätten, auf die eine oder andere Art.
    Derkhan besann sich darauf, weshalb sie hergekommen war.
    Sie musterte die Patienten mit dem Auge eines Ghuls, eines Leichenfledderers. Im Hinterkopf war sie sich der Kriterien bewusst, nach denen sie auswählte – geistig gesund und noch so weit bei Kräften, dass er wenigstens den Abend erlebte – und sie war sich selbst zuwider.
    Die Nonne hatte sie bemerkt, näherte sich mit einem seltsamen Mangel an Dringlichkeit und verlangte zu erfahren, wen oder was sie suchte.
    Derkhan ignorierte sie, setzte ihre schreckliche, kaltblütige Suche fort, wanderte durch den Saal, blieb schließlich vor dem Bett eines ausgezehrten alten Mannes stehen, dem das Krankenblatt noch eine Woche zu leben gab. Er schlief mit offenem Mund, sabbernd, und verzerrte im Schlaf das Gesicht.
    Es gab einen furchtbaren Moment, der Besinnung, als sie sich dabei ertappte, wie sie zweifelhafte, unhaltbare moralische Maßstäbe anlegen wollte – Wer hier ist ein Spitzel?, wollte sie rufen, Wer hat vergewaltigt? Wer hat ein Kind getötet? Wer hat gefoltert? Sie wies sich selbst streng zurecht. Wenn sie nach Verdienst wählte, nach Gut und Böse, lief sie Gefahr, den Verstand zu verlieren. Dies war eine Notlage. Skrupel waren nicht angebracht.
    Derkhan drehte sich zu der Nonne um, die ihr folgte und einen pausenlosen Strom von Belanglosigkeiten von sich gab, der leicht zu überhören war.
    Derkhan erinnerte sich an ihre eigenen Worte, als wären sie nie wirklich gesprochen worden.
    Dieser Mann liegt im Sterben, hatte sie gesagt.
    Die Nonne schwieg still und nickte.
    Kann er gehen?
    Langsam, hatte die Nonne zur Antwort gegeben.
    Ist er verrückt?, fragte Derkhan. Er war es nicht.
    Ich nehme ihn mit, hatte sie gesagt. Ich brauche ihn.
    Die Nonne verlieh ihrer Empörung und Verblüffung Ausdruck, und Derkhans eigene, sorgsam niedergehaltene Emotionen brachen sich Bahn. Tränen stürzten über ihr Gesicht, und ihr war zumute, als müsste sie vor Jammer laut aufschreien, deshalb kniff sie die Augen zu und zischte in wortlosem, kreatürlichen Schmerz, bis die Nonne verstummte. Derkhan hatte sie angeschaut und ihre eigenen Tränen hinuntergeschluckt.
    Dann hatte sie die Pistole aus dem Umhang gezogen und der Nonne an den Bauch gehalten. Die junge Frau senkte den Blick darauf und stieß einen spitzen, dünnen Angstlaut aus. Während sie ungläubig auf die Waffe starrte, zog Derkhan mit der linken Hand ihre Börse aus der Tasche, mit dem Rest von Isaacs und Yaghareks Barschaft. Sie hielt sie hoch, bis die Nonne aufmerksam wurde und begriff, was erwartet wurde, und die Hand ausstreckte. Derkhan schüttete die

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