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Perdido Street Station 02 - Der Weber

Perdido Street Station 02 - Der Weber

Titel: Perdido Street Station 02 - Der Weber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: China Miéville
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Scheine und den Goldstaub und die abgegriffenen Münzen hinein.
    Nimm das, hatte sie gesagt und hörte, wie ihre Stimme zitterte. Wahllos deutete sie auf die stöhnenden, sich wälzenden Gestalten in den Betten. Kauf Laudanum für sie und Kalziach, heile diesen und lass jenen friedlich hinüberschlummern, hilf einem oder zwei oder drei von ihnen zu leben und anderen, leichter zu sterben oder ich weiß nicht ich weiß nicht. Nimm das Geld, hilf so vielen du kannst, aber diesen einen muss ich mitnehmen. Weck ihn auf und sag ihm, er muss mit mir kommen. Sag ihm, ich kann ihn heilen.
    Der Pistolenlauf wackelte, aber Derkhan hielt die Waffe vage auf den Leib ihres Gegenübers gerichtet. Sie bog die Finger der Nonne über dem Geld zusammen und beobachtete, wie ihre Augen sich staunend und verständnislos weiteten.
    Tief in ihrem Innern, in dem kleinen Winkel, der noch fühlen konnte, der sich nicht ganz abschließen ließ, regte sich der Versuch einer Rechtfertigung. Siehst du, dachte es in ihr, wir nehmen ihn mit, aber all diese anderen retten wir!
    Doch es gab kein moralisches Argument, welches ihr Tun weniger unmenschlich, weniger verdammenswürdig machte. Da war nur das Muss, das unbarmherzige Muss.
    Sie umfasste die geschlossene Hand der Nonne mit der ihren. Hilf ihnen, hatte sie gesagt, sie alle kannst du retten, außer ihm – oder keinen, auch ihn nicht. Hilf ihnen.
    Und nach einem langen, langen Schweigen, während sie Derkhan mit einem Blick anschaute, in dem sich ihre Gewissensqualen spiegelten, dann auf die schmutzige Handvoll Reichtum und die Pistole und die sterbenden Patienten links und rechts, steckte die Nonne das Geld mit zitternder Hand in ihren weißen Anzug. Und als sie an die Seite des Bettes trat, um den alten Mann zu wecken, betrachtete Derkhan sie mit einem scheußlichen, schäbigen Gefühl des Triumphs.
    Siehst du, hatte sie gedacht, und ihr war übel vor Ekel vor sich selbst, nicht nur ich, nicht nur ich! Auch sie hat entschieden, dass es geschehen soll!
     
    Sein Name war Andrej Shelbornek. Er war 65. Seine Eingeweide wurden von irgendeinem aggressiven Bakterium zerfressen. Er war ein stiller Mensch und durch langes Siechtum matt, und nach zwei oder drei anfänglichen Fragen folgte er Derkhan ohne Einwände.
    Sie erzählte ihm in Andeutungen von den Behandlungsmethoden, die sie im Sinn hatten, den experimentellen Therapien, die sie an seinem verhärmten Körper zu erproben wünschten. Er äußerte sich nicht dazu, auch nicht zu ihrer heruntergekommenen Erscheinung oder etwas anderem. Er ahnt, was ihn erwartet, hatte sie gedacht. Er ist es müde, unter Schmerzen dahinzuvegetieren, er macht es mir leicht. Aber das war ein primitiver Versuch, sich selbst zu belügen, und ihrer nicht würdig.
    Sehr schnell wurde klar, dass er die mehreren Meilen nach Griss Twist nicht zu Fuß zurücklegen konnte. Derkhan hatte gezögert. Sie zog ein paar zerrissene Geldscheine aus der Tasche. Ihr blieb nichts anderes übrig, als einer Droschke zu winken. Sie war nervös. Sie nannte das Ziel mit tiefer, verstellter Stimme und hielt sich dabei den Umhang vors Gesicht.
    Der zweirädrige Wagen wurde von einem Ochsen gezogen, Remade zu einem Bipeden, damit er in den gewundenen Straßen und schmalen Gassen New Crobuzons navigieren konnte, ohne überall anzustoßen. Er schaukelte auf seinen rückwärts gebogenen Hinterbeinen einher, in unablässigem Staunen über sich selbst. Derkhan lehnte sich zurück und schloss die Augen. Als sie wieder zu ihm hinschaute, schlief Andrej.
    Er beschwerte sich mit keiner Silbe, runzelte nicht die Stirn, wirkte nicht beunruhigt, bis sie ihn aufforderte, den steilen Hang aus Erde und Betontrümmern neben der Sud Line hinaufzuklettern; da legte er das Gesicht in Falten und schaute sie verwirrt an.
    Derkhan hatte kurzerhand etwas von einem Geheimlabor erzählt, einem Platz über der Stadt mit Zugang zur Bahnlinie. Nein. Er hatte den Kopf geschüttelt und sich umgesehen, als wollte er fliehen. Im Dunkeln unter der Eisenbahnbrücke hatte Derkhan die Pistole gezogen. Obgleich dem Tode nahe, fürchtete er sich zu sterben, und sie hatte ihn gezwungen, vor ihr her den Hang hinaufzusteigen. Auf halbem Weg nach oben hatte er angefangen zu weinen. Derkhan stieß ihn mit der Pistole an und spürte ihre Gefühle wie aus weiter Ferne. Sie hielt ihr Grauen auf Abstand.
     
    Im Innern der staubigen Hütte wartete Derkhan schweigend, Andrej mit der Pistole in Schach haltend, bis sie endlich die schlurfenden

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