Perfect Copy - Die zweite Schöfung
deutschen Sprache nicht mehr mächtig. Dann zückte er das Foto und ließ es quer über den Tisch segeln.
»Warum habt ihr mir nie gesagt, dass ich einen Bruder habe?«
Er sagte es, ohne die Stimme zu heben, fast im Gesprächston, doch die Wirkung wäre kaum größer gewesen, wenn er seine Eltern stattdessen mit einem Kübel eiskalten Wassers übergossen hätte. Vaters Arm sank schlaff herab, beider Blicke richteten sich in jähem Entsetzen auf das kleine, bunte Rechteck, und dann fielen sie schwer auf zwei der frei gewordenen Stühle, als seien sie lang erwartete Gäste und überdies den ganzen Weg von Schirntal nach Berlin zu Fuß gegangen und deshalb zu Recht erschöpft bis ins Mark. Irgendwie schien noch ein fernes Echo der Schreie im Haus unterwegs zu sein und nur zögernd verhallen zu wollen.
»Woher hast du das?« Seine Mutter beugte sich über das Foto, fasste es aber nicht an, als wage sie es nicht.
»Das ist doch unwichtig«, sagte Wolfgang. Sein Vater blickte finster zur Seite. »Julia, woher hat er dieses Bild?«
Mutter antwortete nicht, verschränkte nur die Hände ineinander. Schmerz stand in ihrem Gesicht.
»Ich habe einen Bruder gehabt, nicht wahr?«, fragte Wolfgang.
»Ja«, nickte sie.
Vater schnaubte wie jemand, der sich zu Unrecht verdächtigt fühlt. »Wir wollten dich nicht damit belasten. Du warst noch nicht auf der Welt, als… es passiert ist.«
»Und wie ist es passiert?«
»Es war ein Unfall. Ein Unglücksfall beim Baden im Meer. Johannes ist ertrunken.« Vater sah ihn an, und als Wolfgang nichts sagte, fuhr er fort: »Es war auf Sizilien. Johannes ist an einer Stelle mit gefährlichen Strömungen ins Wasser gefallen und nicht mehr aufgetaucht.«
»Dabei war er ein so guter Schwimmer«, sagte Mutter mit Tränen in den Augen.
»Wir sind da sommers immer hingefahren. Südlich von Valetto hatte ein ehemaliger Studienkollege ein kleines Haus, nicht weit von einer Reihe wunderbarer, einsamer Buchten… Man konnte zu Fuß hingehen, baden, hatte seine Ruhe… Nur eben diese Strömung. Johannes wusste Bescheid, wusste, wo es gefährlich war… Es war furchtbar, das kannst du dir ja vorstellen.«
Wolfgang saß reglos, fühlte nur einen unsagbaren Schmerz in sich wühlen. »Wo ist er beerdigt?«
Sein Vater schüttelte den Kopf. »Nirgends. Man hat seinen Leichnam nie gefunden. Es war, als habe ihn eine göttliche Macht von einem Moment zum anderen einfach aus unserem Leben genommen.«
»Und dann seid ihr nach Kuba gegangen und habt ihn geklont. Um ihn wieder zu haben.«
»Was?«, zuckte Mutter zusammen.
»Und ihr habt nur geheiratet, damit der nächste Wundercellist einen anderen Nachnamen hat.« Wolfgang wünschte, er hätte auch weinen können. Oder schreien. Irgendwas, um die entsetzliche Verzweiflung hinauszulassen, die sich in ihm zusammenballte.
»Wie kommst du nur auf diese Idee?«, brauste Vater auf.
»Ihr habt die Bilder eurer Hochzeitsreise nicht sorgfältig genug ausgesiebt«, sagte Wolfgang bitter. »So komme ich auf diese Idee. Es ist ein Foto dabei, auf dem Mutter vor dem Castillo del Morro steht, an fast genau derselben Stelle, an der das Interview mit Frascuelo Aznar aufgenommen wurde.«
»Das ist Unsinn.«
Jetzt schrie Wolfgang. »Ich bin der Klon von Johannes, so ist es doch? Ich bin Johannes der Zweite!«
»Unfug, nein. Du bist einfach sein Bruder.«
»Ich sehe ihm so ähnlich, dass Professor Tessari mich für ihn gehalten hat im ersten Moment.« Er wies auf das Foto. »Verdammt, ich habe ja selber geglaubt, dass ich das bin auf dem Bild!«
»Der Professor ist ein alter Mann. Es ist zwei Jahrzehnte her, dass er Johannes zuletzt gesehen hat. Wenn er dich mit Johannes verwechselt, heißt das nur, dass er senil geworden ist«, versetzte Vater. »Es ist ja schließlich nichts Ungewöhnliches, dass Brüder einander ähneln.«
Wolfgang hatte das Gefühl, innen wund zu sein. Jeder Atemzug tat weh. Er hätte so gern geweint, aber dafür war jetzt weder die Zeit noch die Gelegenheit. Sein Leben war eine Lüge, so war es doch, oder? Hilfe suchend sah er Leo Franck an, und der nickte ihm zu, verstand.
»Ich glaube, das genügt jetzt«, ging der Unternehmer mit Bestimmtheit dazwischen. »Wir werden abwarten, was der Staatsanwalt zu alldem meint.«
Wolfgangs Eltern wechselten einen irritierten Blick.
»Wie bitte?«, fragte Vater argwöhnisch.
»Ich habe vorhin mit dem Berliner Landeskriminalamt telefoniert. Ein Kommissar Nolting mit seinen Leuten
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