Perfekt! Der überlegene Weg zum Erfolg (German Edition)
und unmittelbar wie alles, was sie im Wachzustand erleben. Everett fand immer mehr Beispiele und entwickelte langsam eine Theorie, die er das Immediate Experience Principle (IEP) (wörtlich: Prinzip des unmittelbaren Erlebens) nannte. Sie besagt, dass die Pirahã sich nur mit Dingen beschäftigen, die sie im Hier und Jetzt erleben, oder die mit etwas im Zusammenhang stehen, das jemand in der jüngsten Vergangenheit selbst erlebt hat.
Das würde die Eigenheiten ihrer Sprache erklären: Farben und Zahlen sind Abstraktionen, die nicht zum IEP passen. Statt Rekursion verwenden sie einfache Aussagesätze über das, was sie gesehen haben. Seine Theorie erklärte den Mangel an materieller Kultur und auch das Fehlen von Schöpfungsmythos und Geschichten, die sich auf die Vergangenheit beziehen. Diese Kultur hatte sich als perfekte Anpassung an die Lebensumwelt und die Bedürfnisse der Pirahã entwickelt. So lebten sie völlig in der Gegenwart und waren bemerkenswert glücklich. Die Kultur half ihnen, ihre lebensfeindliche Umgebung psychisch zu verarbeiten. Sie brauchten nur die unmittelbare Erfahrung und hatten daher keine Worte für alles, was darüber hinausging. Everetts Theorie war das Ergebnis vieler Jahre eingehender Vertiefung in die Kultur der Pirahã. Sie erklärte so vieles, was kein Beobachter von außen nach nur wenigen Monaten hätte verstehen können.
Everetts Schlussfolgerung aus seinen Forschungen löste zahlreiche Kontroversen unter Linguisten aus. Er war zu dem Ergebnis gekommen, dass Kultur eine enorme Rolle bei der Entwicklung einer Sprache spielt, und dass Sprachen sehr viel unterschiedlicher sind, als bisher angenommen wurde. Es gab natürlich einige Aspekte, die alle menschlichen Sprachen gemeinsam hatten, aber es kann keine Universalgrammatik geben, die den Einfluss der Kultur aufhebt. Zu einer solchen Schlussfolgerung, so berichtete er, gelangte man nur durch viele Jahre intensiver Feldforschung. Wer aus der Ferne Annahmen trifft, die auf verallgemeinernden Theorien aufbauen, sieht nicht das Gesamtbild. Um die Unterschiede zu erkennen, muss man viel Zeit und Mühe aufbringen, man muss an einer Kultur teilnehmen. Gerade weil diese Unterschiede so schwer zu erkennen sind, wurde die Bedeutung der Kultur als primäres Gestaltungswerkzeug für Sprache und für unsere Weltsicht lange unterschätzt.
Je weiter er sich auf die Pirahã-Kultur einließ, umso mehr veränderte sie ihn. Er wandte sich nicht nur von der hierarchischen Struktur der Forschung in der Linguistik und den Vorstellungen ab, die dazu führten, sondern auch von seiner Arbeit als Missionar. Beides waren Versuche, den Pirahã fremde Vorstellungen und Werte aufzudrücken. Er war überzeugt, dass die Verkündigung des Evangeliums und die Bekehrung zum Christentum die Kultur der Pirahã, die sich so perfekt an ihre Lebensumstände angepasst hatte und durch die sie so zufrieden waren, komplett zerstören würde. Er verlor seinen eigenen christlichen Glauben und kehrte der Kirche schließlich den Rücken. Er hatte eine fremde Kultur so genau von innen kennengelernt, dass er die Überlegenheit eines bestimmten Glaubens oder Wertesystems nicht mehr länger akzeptieren konnte. Seiner Erfahrung nach war eine solche Ansicht nur eine Illusion, die entstand, wenn man als Zuschauer draußen blieb.
Im Gegensatz zu Daniel Everettverlassen sich viele Forscher unter ähnlichen Umständen instinktiv auf die Kenntnisse und Konzepte, die sie für Forschungszwecke gelernt haben. Sie hätten die Pirahã ebenso genau studiert, wie Everett es am Anfang tat, sie hätten umfangreiche Notizen gemacht und versucht, diese fremde Kultur irgendwie in den Rahmen der vorherrschenden Theorien in Linguistik und Anthropologie zu zwängen. Sie wären dafür mit Artikeln in angesehenen Zeitschriften und Festanstellungen im universitären Bereich belohnt worden. Aber sie wären nur Zuschauer geblieben, und ein großer Teil ihrer Ergebnisse wären nur Bestätigungen ihrer ursprünglichen Erwartungen gewesen. Alles, was Everett über die Sprache und Kultur der Pirahã entdeckte, wäre nie bekannt geworden. Wie oft so etwas wohl in der Vergangenheit schon geschehen ist, und auch heute noch geschieht? Wie viele Geheimnisse indigener Kulturen sind für immer verloren, weil die Forscher nur Zuschauer blieben?
Diese Vorliebe für die Zuschauerperspektive ist teilweise einem Vorurteil unter Wissenschaftler geschuldet. Viele glauben, eine Beobachtung von außen erhalte die
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