Perfekt
Abend damit beendigt war, doch ihr gekränkter Stolz ließ es nicht zu, daß sie sich wie ein verwundetes Reh in ihr Schlafzimmer zurückzog. Sie würde keine Träne vergießen und nicht zeigen, wie schwer sie getroffen war. Statt dessen ging sie zum Tisch hinüber und machte sich daran, die daraufliegenden Illustrierten geradezurücken. Sein frostiger Kommandoton ließ sie zusammenzucken: »Gehen Sie zu Bett! Was zum Teufel sind Sie eigentlich? Eine zwanghafte Putzfrau?«
Die Hefte glitten ihr aus der Hand; sie warf ihm einen giftigen Blick zu, doch tat sie, wie ihr geheißen.
Aus dem Augenwinkel beobachtete Zack ihren Rückzug, bemerkte ihr gehobenes Kinn und den stolzen Gang. Dann aber setzte er die Fähigkeit ein, die er im Alter von achtzehn Jahren perfektioniert hatte, wandte sich ab und verbannte Julie Mathison völlig aus seinen Gedanken. Statt dessen konzentrierte er sich auf die Nachrichtensendung von Tom Brokaw, die Julie mit ihrem Tränenausbruch unterbrochen hatte. Er hätte schwören mögen, daß Brokaw auch irgend etwas über Dominic Sandini gesagt hatte, während er damit beschäftigt gewesen war, Julie zu trösten. Mit gerunzelter Stirn setzte er sich vor den Fernseher. Hätte er nur gehört, was es war. In etwa zwei Stunden, kurz vor Sendeschluß, würde eine weitere Nachrichtensendung ausgestrahlt. Zack legte die Füße auf den Tisch und lehnte sich bequem zurück. Er würde solange warten. Im Geiste sah er Sandinis Gesicht mit dem spitzbübischen Grinsen vor sich, und um seine Lippen spielte ein leises Lächeln, als er an den drahtigen kleinen Italiener dachte, der sich durch nichts unterkriegen ließ. In all den Jahren hatte Zack nur zwei Männer kennengelernt, die er als wahre Freunde betrachtete: einer davon war Matt Farrell, der andere war Dominic Sandini. Zacks Lächeln vertiefte sich, als er die beiden in Gedanken miteinander verglich. Seine einzigen Freunde hatten so gut wie nichts miteinander gemein. Matt Farrell war ein echter Finanzmagnat; Zack und ihn verbanden Dutzende gemeinsamer Interessen und ein tiefer gegenseitiger Respekt. Dominic Sandini dagegen war ein echter kleiner Gauner; er hatte absolut nichts mit Zack gemein, und Zack hatte nie etwas getan, um Sandinis Respekt oder Freundschaft zu verdienen. Dennoch hatte Sandini ihm beides vorbehaltlos geschenkt. Er hatte mit dummen Witzen und lustigen Geschichten über seine große, ungewöhnliche Familie Zacks Isoliertheit durchbrochen und ihn dann, ohne daß Zack es realisierte, in diese Familie mit einbezogen. Seine Verwandten kamen ins Gefängnis und verhielten sich dabei so, als sei ein Gefängnishof ein völlig normaler Ort für Familienfeiern. Sie legten ihre Babys in seine Arme und behandelten ihn mit derselben verwirrenden Mischung aus warmer Zuneigung und ernster Sorge, die sie Dom gegenüber an den Tag legten. Rückblickend wurde Zack erst richtig klar, wieviel ihre Briefe und Plätzchen - und sogar Mama Sandinis Knoblauchsalami - ihm wirklich bedeutet hatten. Er würde sie alle sehr viel mehr vermissen, als er sich vorgestellt hatte. Den Kopf gegen das Sofa gelehnt, schloß er die Augen und schwelgte in Erinnerungen. Nun, er würde einen Weg finden, Gina ein Hochzeitsgeschenk zukommen zu lassen. Ein silbernes Teeservice. Und er würde auch ein Geschenk für Dom kaufen. Etwas ganz Besonderes. Aber was konnte er für Dominic Sandini kaufen, was konnte Dom brauchen, und was würde ihn freuen? Das naheliegendste Geschenk, das ihm im Augenblick einfiel, entlockte Zack seiner Absurdität halber ein leises Lächeln: ein Gebrauchtwagengeschäft!
Kurz vor Mitternacht wiederholten sie, wie Zack gehofft hatte, den Brokaw-Kommentar zusammen mit einem kurzen Video, das Zack bereits vorher gesehen hatte. Das Video zeigte Dom eine Stunde nach Zacks Flucht, wie er, die Hände über dem Kopf, gefilzt wurde, Handschellen angelegt bekam und dann in ein Polizeiauto gestoßen wurde. Die Worte des Sprechers waren es, die Zack die Stirn runzeln ließen: »Ein zweiter flüchtiger Sträfling, Dominic Sandini, dreißig, wurde wieder aufgegriffen und nach einer kurzen Auseinandersetzung mit der Polizei in Haft genommen. Er wurde zum Verhör in die Staatliche Strafanstalt Amarillo überführt, wo er mit Benedict, der noch frei ist, eine Zelle geteilt hatte. Gefängnisdirektor Hadley nannte Sandini besonders gefährlich.« Zack lehnte sich vor, starrte auf den Fernseher und war erleichtert, als er sah, daß Dom von den Polizisten nicht
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