Perfekt
noch nicht sicher, was Julie den Eindruck vermittelte, er warte darauf, daß etwas geschehe ... oder daß jemand mit ihm Verbindung aufnehme.
Natürlich hatte er recht; je weniger sie wußte, desto besser war es für sie beide. Und genauso recht hatte er, wenn er sagte, sie sollten jede Sekunde genießen, die sie gemeinsam verbringen konnten, und nicht unnütze Gedanken an die Zukunft verschwenden. Er hatte mit allem recht, und doch konnte sie einfach nicht umhin, sich Sorgen über seine Zukunft zu machen. Sie konnte sich einfach nicht vorstellen, wie er den Mörder seiner Frau finden wollte, wo sein Gesicht doch so bekannt war, daß man ihn überall sofort erkennen würde.
Andererseits war er Schauspieler gewesen, und es würde ihm leichtfallen, sich zu verkleiden und zu verstellen. Sie hoffte, das könne ihn schützen. Und hatte schreckliche Angst, daß es nicht so wäre.
Der Bildschirm flimmerte, und während sie zur Küche zurückkehrte, hörte sie geistesabwesend einem Psychologen zu, der offensichtlich im Studio zu Gast war. Sie hatte schon fast die Küche erreicht, als ihr plötzlich klarwurde, daß der Psychologe über sie sprach. Sie wirbelte herum, ging mit ungläubig aufgerissenen Augen zum Fernsehapparat zurück und starrte auf die eingeblendete Schrift, die den Sprecher als Dr. phil. William Everhardt auswies. Ausgesprochen kompetent wirkend, äußerte sich Dr. Everhardt darüber, welche emotionalen Stadien die als Geisel genommene Julie Mathison durchlief:
»In jüngster Zeit hat sich die Forschung ausführlich mit Geiseln wie Miß Mathison beschäftigt«, sagte er. »Ich selbst bin Mitautor eines Buches zu diesem Thema, und ich kann Ihnen mit aller Gewißheit versichern, daß die junge Dame eine äußerst nervenbelastende, aber durchaus nicht ungewöhnliche und voraussagbare Folge von Gefühlen durchmacht.«
Fasziniert und gespannt darauf, von einem völlig Fremden zu erfahren, was in ihrem Inneren vor sich ging, lauschte Julie.
»Am ersten und zweiten Tag ist Angst das vorherrschende Gefühl - und zwar eine äußerst lähmende Angst, darf ich hinzufügen. Die Geisel fühlt sich hilflos, ist nicht in der Lage, klar zu denken oder zu handeln, klammert sich aber an die Hoffnung, gerettet zu werden. Später, normalerweise am dritten Tag, setzt dann die Wut ein. Die Wut über die Ungerechtigkeit des Schicksals und darüber, daß sie in die Rolle des Opfers gedrängt wird.«
Amüsiert hielt Julie ihre Hand hoch und zählte an den Fingern die Tage ab, die Realität mit seinem »Fachwissen« vergleichend. Am ersten Tag hatte sich ihre Angst binnen weniger Stunden in Wut verwandelt, und sie hatte versucht, dem Mädchen des Fast-food-Restaurants einen Zettel zuzustecken. Am zweiten Tag hatte sie an der Raststätte einen Fluchtversuch unternommen - und wäre fast erfolgreich gewesen. Am dritten Tag dann war ihr die Flucht geglückt. Sie hatte Angst gehabt und war sehr nervös gewesen, aber ganz bestimmt nicht gelähmt vor Furcht. Abfällig schüttelte sie den Kopf und konzentrierte sich dann wieder auf Dr. Everhardts Worte: »Inzwischen hat Miß Mathison das Stadium erreicht, das ich gewöhnlich Dankbarkeits-Abhängigkeits-Syndrom nenne. Sie sieht in ihrem Entführer einen Beschützer, schon fast einen Verbündeten, weil er sie noch nicht umgebracht hat. Äh ... wir gehen davon aus, daß Benedict keine Veranlassung hatte, ihr etwas zuleide zu tun. Wie auch immer, jedenfalls ist sie jetzt wütend auf die Polizei, weil die sie noch nicht befreien konnte. Sie fängt an, die Behörden für schwach und unfähig zu halten, während ihr Entführer, dem es ganz offensichtlich gelungen ist, sie auszutricksen, in ihren Augen immer mehr zum Helden wird. Dieses Gefühl der Bewunderung wird noch verstärkt durch eine tiefe Dankbarkeit dafür, daß er sie nicht verletzt hat. Benedict ist nicht nur intelligent, sondern verfügt, soviel ich weiß, auch über einen nicht unbeträchtlichen Charme, was alles zusammengenommen darauf hinauslaufen dürfte, daß sie ihm sowohl körperlich als auch seelisch ausgeliefert sein wird.«
Julie starrte das bärtige Gesicht auf dem Bildschirm mit offenem Mund an und konnte einfach nicht fassen, wie dieser wichtigtuerische Mensch dazu kam, solche Allgemeinplätze über sie zu verbreiten. Unfreiwillig erheitert, stemmte sie die Hände in die Hüften. Das einzige, was Everhardt bisher richtig erkannt hatte, war, daß Zack intelligent war und Charme besaß.
»Um sich von diesem Martyrium
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