Perfekt
herum. Dort wurde sie zum zweiten Mal überrascht, denn die Frau, die sich, auf einen Ebenholzstock mit Silbergriff gestützt, gerade erhob, war keineswegs eine kleine, alte Frau, wie Julie es nach dem Anblick des Butlers erwartet hatte. Sie überragte Julie vielmehr um mehrere Zentimeter, und sie stand genauso aufrecht und gerade da, wie ihre Miene steinern und der Ausdruck ihres fast faltenlosen Gesichtes abweisend war. »Miß Mathison!« sagte die Frau. »Setzen Sie sich hin, oder bleiben Sie stehen, aber reden Sie. Aus welchem Grund sind Sie hergekommen?«
»Es tut mir sehr leid«, entgegnete Julie hastig und nahm rasch auf dem hochlehnigen Stuhl gegenüber von Zacks Großmutter Platz, damit diese sich nicht verpflichtet fühlen sollte, ihretwegen stehenzubleiben. »Mrs. Stanhope, ich bin eine Freundin Ihres ...«
»Ich weiß, wer Sie sind. Ich habe Sie im Fernsehen gesehen«, unterbrach die Frau sie kalt, während sie sich wieder setzte. »Er hat Sie als Geisel genommen und Sie dann dazu gebracht, als seine Fürsprecherin zu fungieren.«
»Nicht ganz«, sagte Julie, der auffiel, daß die Frau offensichtlich nicht einmal Zacks Namen in den Mund nehmen wollte. Wie immer in Situationen, auf die sich vorzubereiten sie Zeit gehabt hatte, war Julie auch jetzt in der Lage, äußerlich Ruhe zu bewahren, innerlich jedoch war sie nervöser und verkrampfter, als ihr recht sein konnte.
»Ich habe Sie gefragt, zu welchem Zweck Sie hergekommen sind!«
Anstatt sich von dem Tonfall der älteren Frau einschüchtern zu lassen, setzte Julie ein freundliches Lächeln auf und antwortete ruhig: »Ich bin hier, Mrs. Stanhope, weil ich mit Ihrem Enkel in Colorado war ...«
»Ich habe nur einen Enkel«, unterbrach die andere Frau brüsk, »und der lebt hier in Ridgemont.«
Julie ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »Mrs. Stanhope«, sagte sie, »Sie haben mir nur fünf Minuten zugestanden. Bitte zwingen Sie mich nicht dazu, sie damit zu vergeuden, irgendwelche irrelevanten Formalitäten abzuklären, weil ich sonst vielleicht gehen muß, ohne Ihnen den Grund meines Hierseins genannt zu haben - und ich glaube, daß er Sie interessieren wird.« Julies Tonfall führte dazu, daß die Frau mißbilligend die Augenbrauen hob und die Lippen zusammenkniff, doch Julie fuhr tapfer fort: »Ich bin mir der Tatsache, daß Sie Zack nicht als Ihren Enkel anerkennen, durchaus bewußt, und ich weiß auch, daß Sie noch einen weiteren Enkel hatten, der auf tragische Weise ums Leben kam. Und ich weiß, daß der Bruch zwischen Ihnen und Zack nicht zuletzt deswegen all diese Jahre lang angedauert hat, weil er überaus starrköpfig ist.«
Ihr Gesicht spiegelte Spott und Hohn. »Das hat er Ihnen erzählt?«
Julie nickte und bemühte sich, den unerwarteten Sarkasmus der älteren Frau zu ignorieren. »Er hat mir sehr viel erzählt, als wir in Colorado waren, Mrs. Stanhope. Vieles, was er nie zuvor jemandem anvertraut hat.« Sie verstummte und hoffte auf ein Anzeichen von Neugierde, doch Mrs. Stanhope blickte sie nur weiterhin schweigend mit eisiger Miene an, und Julie sah keine andere Möglichkeit, als einfach weiterzusprechen. »Unter anderem hat er mir erzählt, daß er sich, wenn er noch einmal vor der Wahl stünde, schon vor Jahren mit Ihnen versöhnt hätte. Er hat Sie immer sehr bewundert, und er hat Sie geliebt ...«
»Raus!«
Julie stand auf, doch sie war wütend, und es kostete sie viel Kraft, ihrem Ärger nicht lauthals Luft zu machen. »Zack hat zugegeben, daß Sie beide sich sehr ähnlich sind, und was Starrköpfigkeit angeht, hat er damit augenscheinlich sehr recht gehabt. Ich versuche, Ihnen zu sagen, daß Ihr Enkel den Bruch zwischen Ihnen beiden bedauert und daß er sie liebt.«
»Raus, habe ich gesagt. Verschwinden Sie. Sie hätten niemals herkommen sollen!«
»Offensichtlich war es tatsächlich umsonst«, stimmte Julie scharf zu, während sie sich nach ihrer Handtasche bückte, die neben dem Stuhl lag. »Ich hatte keine Ahnung, daß eine erwachsene Frau, die dem Ende ihres Lebens entgegenblickt, einen derartigen Groll auf ihren Enkel hegen kann für etwas, das er getan hat, als er noch ein Kind war. Was kann er schon Schlimmes verbrochen haben, daß Sie ihm nicht vergeben wollen?«
Mrs. Stanhope lachte bitter. »Sie Närrin! Er hat auch Sie hereingelegt, nicht wahr?«
»Wie bitte?«
»Hat er Sie tatsächlich gebeten, hierherzukommen?« fragte sie scharf. »Das hat er bestimmt nicht! Das würde er niemals wagen!«
Da sie
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