Perfekt
Gerechtigkeitssinn ist, der Sie hergeführt hat. Ich habe große Achtung vor Zivilcourage, Miß Mathison, vor allem bei Frauen. Und deswegen bin ich bereit, mit Ihnen über Dinge zu sprechen, die noch immer sehr schmerzlich für mich sind. Um Ihrer selbst willen schlage ich vor, daß Sie mir zuhören.«
Überrascht von der drastischen Wendung, die ihre Unterhaltung genommen hatte, blieb Julie zögernd neben ihrem Stuhl stehen.
»Ihre Miene läßt darauf schließen, daß Sie nicht gewillt sind, meinen Worten Glauben zu schenken«, sagte Mrs. Stanhope und musterte sie durchdringend. »Nun gut. Wäre ich so verblendet und so loyal, wie Sie es augenscheinlich sind, würde ich mir wahrscheinlich auch nicht glauben.« Sie griff nach der Glocke, die auf einem Tisch neben ihrem Stuhl stand, und läutete. Kurz darauf erschien der Butler unter der Tür. »Kommen Sie herein, Foster«, befahl sie, und als er ihrer Aufforderung gefolgt war, wandte sie sich an Julie und sagte: »Wie, glauben Sie, ist Justin gestorben?«
»Ich weiß, wie er gestorben ist«, korrigierte Julie sie entschieden.
»Was also glauben Sie zu wissen?« gab Mrs. Stanhope mit gerunzelter Stirn zurück.
Julie wollte schon den Mund aufmachen, um es ihr zu sagen, zögerte dann aber, weil ihr, wenn auch etwas verspätet, auffiel, daß sie es schließlich mit einer alten Frau zu tun hatte. Konnte sie, Julie, sich das Recht nehmen, ihre Erinnerungen an Justin nur deshalb zu zerstören, um ihren Haß auf Zack zu mildem? Andererseits war Justin bereits tot, Zack aber noch sehr lebendig. »Sehen Sie, Mrs. Stanhope, ich möchte Sie nicht noch mehr verletzen, als ich es vermutlich bereits getan habe, und wenn ich Ihnen die Wahrheit sage, wird genau das passieren.«
»Die Wahrheit kann mich nicht verletzen«, sagte sie wegwerfend.
Mrs. Stanhopes verächtlicher Tonfall war zuviel für Julies bereits angegriffene Nerven: »Justin hat Selbstmord begangen«, sagte sie scharf. »Er hat sich in den Kopf geschossen, weil er homosexuell war und damit nicht fertig wurde. Er hat es Zack gestanden, eine Stunde bevor er sich umgebracht hat.«
Die kalten grauen Augen der anderen Frau ließen keine Regung erkennen. Sie starrte Julie weiterhin mit einer Mischung aus Mitleid und Verachtung an, griff dann nach einer Fotografie, die in einem massiven Silberrahmen auf dem Tisch neben ihr stand, und hielt sie Julie hin. »Sehen Sie sich das an«, sagte sie. Julie, der keine andere Wahl blieb, nahm das Bild und sah einen blonden, lächelnden jungen Mann, der am Ruder einer Segeljacht stand. »Das ist Justin«, sagte Mrs. Stanhope mit auffällig ausdrucksloser Stimme. »Finden Sie, daß er wie ein Homosexueller aussieht?«
»Das ist eine lächerliche Frage. Wie jemand aussieht, das hat überhaupt nichts damit zu tun, wie er sexuell veranlagt ist...«
Julie verstummte, als Mrs. Stanhope auf dem Absatz kehrtmachte und zu einem großen antiken Schrank auf der anderen Seite des Zimmers ging. Mit einer Hand auf den Stock gestützt, öffnete sie die Tür, hinter der dunkle Holzbretter mit spiegelndem Kristall sichtbar wurden. Dann zog sie am obersten Brett, und das ganze Paneel schwang im Halbkreis heraus. Dahinter erblickte Julie die Tür eines verborgenen Safes, und von unerklärlicher Unruhe geplagt, be-obachtete sie, wie Mrs. Stanhope die richtige Zahlenkombination einstellte, den Safe öffnete und eine große braune Faltmappe entnahm, die von einem Gummiband zusammengehalten wurde. Sie löste das Gummiband und ließ die Mappe vor Julie auf das Sofa fallen. »Da Sie meinen Worten offensichtlich keinen Glauben schenken, können Sie hier den Polizeibericht und die Zeitungsmeldungen zu dem Fall selber nachlesen.«
Widerwillig sah Julie auf die Papiere, die teilweise aus der Mappe herausgerutscht waren, und ihr Blick fiel auf die Schlagzeile einer Zeitungsmeldung, unter der zwei Fotos zu sehen waren; eines zeigte den achtzehnjährigen Zack, das andere Justin. Die Schlagzeile lautete:
ZACHARY STANHOPE GESTEHT, SEINEN BRUDER JUSTIN ERSCHOSSEN ZU HABEN
Julie streckte ihre zitternde Hand aus und hob die Zeitungsausschnitte auf, die aus der Mappe herausgerutscht waren. Dem Zeitungsbericht zufolge hatte sich Zack in Justins Zimmer aufgehalten und, während er sich mit seinem Bruder unterhielt, ein Gewehr, eine Remington Automatic, aus Justins Sammlung in die Hand genommen, von dem er annahm, daß es nicht geladen sei. Während ihres Gesprächs hatte sich ein Schuß aus der Waffe gelöst und
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