Perfekt
Stanhope ihren Namen rufen hörte. Sie blieb stehen, drehte sich um und versuchte, möglichst ruhig zu bleiben, als sie Zacks Großmutter anblickte, die in der Minute, die sie gebraucht hatte, um Julie in die Halle zu folgen, um Jahrzehnte gealtert schien.
»Falls Sie wissen, wo Zachary sich aufhält«, sagte Mrs. Stanhope, »und falls Sie über so etwas wie ein Gewissen verfügen, dann werden Sie umgehend die Polizei verständigen. Trotz allem, was Sie von mir denken mögen, habe ich aus Rücksicht auf Zachary die wahren Begebenheiten vor der Polizei verheimlicht, anstatt das, was ich über den Streit der beiden Brüder wußte, zu melden, wie es eigentlich meine Pflicht gewesen wäre.«
Julie hob den Kopf, doch ihre Stimme bebte. »Und aus welchem Grund haben Sie so gehandelt?«
»Weil sie ihn sonst verhaftet hätten und er in eine psychiatrische Anstalt eingewiesen worden wäre. Zachary hat seinen eigenen Bruder umgebracht, und er hat auch seine Frau getötet. Wäre er rechtzeitig in psychiatrische Behandlung gekommen, wäre Rachel Evans heute wahrscheinlich noch sehr lebendig. Ich trage die Verantwortung für ihren Tod, und ich kann Ihnen nicht sagen, welche Last das bedeutet. Wäre es nicht von Anfang an klar gewesen, daß man Zack schuldig sprechen würde, hätte ich keine Wahl gehabt und die Wahrheit über Justins Tod an die Öffentlichkeit bringen müssen.« Sie verstummte und rang sichtlich um Selbstbeherrschung. »Um Ihrer selbst willen, Miß Mathison, sagen Sie der Polizei, wo er sich aufhält. Andernfalls wird es eines Tages noch ein weiteres Mordopfer geben, und dann müssen Sie den Rest Ihres Lebens mit denselben Schuldgefühlen leben, wie ich sie ertragen muß.«
»Er ist kein Mörder!« rief Julie.
»Wirklich nicht?«
»Nein!«
»Aber daß er ein Lügner ist, das können Sie nicht leugnen.« Mrs. Stanhope ließ nicht locker. »Entweder hat er Sie angelogen, oder er hat einen Meineid geleistet, was Justins Tod angeht.«
Julie weigerte sich, darauf zu antworten. Sie konnte nichts darauf erwidern, weil sie es nicht ertragen hätte, Zack damit zu belasten.
»Er ist ein Lügner«, betonte Mrs. Stanhope mit Nachdruck. »Und er ist ein so guter Lügner, daß er den perfekten Beruf für sich entdeckt hat - die Schauspielerei.« Sie wandte sich zum Gehen, hielt dann aber inne und blickte über die Schulter zurück. »Möglicherweise«, fügte sie hinzu, und die ungewohnte Mattigkeit in ihrer Stimme hinterließ einen nachhaltigeren Eindruck bei Julie, als es vorher ihr Zorn getan hatte, »möglicherweise glaubt Zachary ja sogar selbst an seine Lügen und wirkt deshalb so überzeugend. Vielleicht hat er sich selber für all die Männer gehalten, die er in seinen Filmen dargestellt hat, und galt deshalb als so überaus >begabter< Schauspieler. In seinen Filmen spielte er Männer, die völlig unnötigerweise mordeten und trotzdem ihrer gerechten Strafe entkamen, weil sie als >Helden< gefeiert wurden. Vielleicht glaubt er, seine Frau ermorden zu können, ohne dafür bestraft zu werden, weil er sich selbst für einen Filmhelden hielt. Vielleicht«, schloß sie mit Nachdruck, »vielleicht ist er schon lange nicht mehr in der Lage, Realität und Fantasiewelt auseinanderzuhalten.«
Zutiefst verunsichert drückte Julie ihre Handtasche so fest an die Brust, daß sie unter dem Druck aufsprang. »Wollen Sie damit sagen, Mrs. Stanhope, daß Sie ihn für geistesgestört halten?« fragte sie.
Mrs. Stanhope ließ die Schultern hängen, und ihre Stimme war nunmehr ein Flüstern, als koste es sie einen ungeheuren Kraftaufwand, überhaupt zu sprechen. »Ja, Miß Mathison, genau das will ich damit sagen: Zachary ist geistesgestört.«
Julie drehte sich ohne ein weiteres Wort um und verließ das Haus. Mit raschen Schritten eilte sie zu ihrem Wagen; am liebsten wäre sie gerannt, wäre sie vor dem Bösen, das dieses Haus ausstrahlte, vor den Geheimnissen, die es barg, und vor den schrecklichen Zweifeln, die man hier ihrer Seele eingepflanzt hatte, davongerannt. Sie hatte vorgehabt, in einem Motel zu übernachten und Zacks Geburtsort am nächsten Tag noch etwas näher zu erkunden. Statt dessen fuhr sie direkt zum Flughafen, gab den Leihwagen zurück und nahm den ersten Flug nach Hause.
55
Tommy Newton blickte von dem Drehbuch auf, in dem er gerade las, als seine Schwester das Wohnzimmer seiner Villa in Los Angeles betrat. Sie war über das Wochenende zu Besuch bei ihm. »Was ist los?« fragte er sie.
»Gerade hat ein
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