Performer, Styler, Egoisten
Selbstbildung und findet daher nicht nur in den Bildungsinstitutionen statt, ihr Ort ist auch der Alltag, in dem sich Kinder und Jugendliche unabhängig von Erwachsenenkontrolle bewegen können müssen. Um Selbstbildung zu ermöglichen, ist also, wenn wir Humboldt konsequent weiterdenken, dafür zu sorgen, dass vor allem Jugendliche, aber auch Kinder, genug Zeit haben, sich ihre geistige und sozialökologische Umwelt selbsttätig und eigenständig anzueignen. Schließt man die Kindheit und die Jugend den ganzen Tag über in Bildungsinstitutionen ein, so setzt man sie nicht nur den größten Teil ihrer Lebenszeit der Allmacht einer totalen pädagogischen Institution aus, sondern nimmt ihnen auch die Freiheit zur Selbstbildung, deren Voraussetzung es ist, in der unmittelbaren und mittelbaren Lebensumwelt und im Denken, eigene, individuelle Wege gehen zu können.
An das zweite Bildungsideal von Humboldt hat bereits wie erwähnt Oskar Negt angeknüpft, indem er die Dominanz einer halbierten Vernunft problematisierte. Im Gegensatz zu einer die geteilte Vernunft forcierenden Bildungspolitik – vergleiche die Bildungsstandards der Pisa Studie: Lesekompetenz und mathematische und naturwissenschaftliche Kompetenzen – fordert Humboldt die Bildung des ganzen Menschen. Bildung im Humboldtschen Sinn bedeutet nicht nur die Vermittlung von am Arbeitsmarkt verwertbaren technischen Kompetenzen. Die Bildung des ganzen Menschen erfordert auch die Vermittlung von geistes- und kulturwissenschaftlichem Wissen, die Diskussion über moralische Standards und eine Persönlichkeitsbildung, die einen autonomen, reflexiven und selbstbewussten Staatsbürger zum Ziel hat.
Nur die kritische Auseinandersetzung mit der Welt, die nur dann möglich ist, wenn das Individuum über Deutungswissen und politische Urteilsfähigkeit verfügt, ermöglicht es, das dritte Humboldtsche Bildungsideal zu verwirklichen, das Wachstum der Person. Wachstum der Person bedeutet, in Auseinandersetzung mit der Welt sich selbst, aber auch die Welt zu verändern. Hier deutet sich ein Verständnis von Individualität an, das weder auf einen schrankenlosen Voluntarismus der Gesellschaftsveränderung setzt noch das Individuum durch die Postulierung von unhinterfragbaren, allesumfassenden ökonomischen und sozialen Entwicklungsgesetzen demoralisiert und passiviert.
Das vierte Ideal Humboldts betrifft die Steigerung der Individualität. Aber auch hier ist nicht von einem ethisch egozentrischen, auf den eigenen Nutzen ausgerichteten Individuum die Rede, sondern von einem Individuum, das neben seiner Selbstgestaltung auch auf die Herstellung von überindividuellen Verbindlichkeiten ausgerichtet ist. Was Humboldt hier als Bildungsideal formuliert, ist ein humanistisch geprägter Gemeinschaftsgeist, der in unserer Gesellschaft der Gegenwart zur Mangelware zu werden droht.
Das fünfte Bildungsideal betrifft die Entfremdung des Menschen und deren Überwindung. Darunter ist die Ausbildung eines kritischen und praktisch widerständigen Menschen zu sehen, eines Menschen, der ganz im Sinne Hegels Hindernisse als Durchgangsstadium der Entfremdung sieht. Damit gibt Humboldt den wichtigen Hinweis darauf, dass humanistische Ideale nicht in der Natur des Menschen liegen und sich wie von selbst im Zusammenleben der Menschen realisieren. Vielmehr geht es darum, schon jungen Menschen zu vermitteln, dass das Individuum für seine persönlichen, aber auch für gemeinschaftliche moralische Ziele kämpfen muss, dass es nur dann ein Mehr an Humanität in die Welt bringen kann, wenn es die Hindernisse, die sich dem Humanismus naturgemäß entgegenstellen, mit Mut und Konsequenz zu überwinden trachtet (vgl. Hastedt 2012).
Bildung als Widerstand gegen das Aufgedrängte als Bildung für die Demokratie
In Anknüpfung an Immanuel Kants Diktum vom Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit (vgl. Kant 1999) fordert Theodor W. Adorno von der Bildung die Erziehung des Menschen zur Mündigkeit. Bildung ist für Adorno das Gegenteil der Anhaltung des Menschen zu blindem und verbissenem Fleiß und zu Gehorsam und Anpassung. Im Gegensatz dazu geht es um die Erziehung des Menschen zur Selbstreflexion und zur kritischen Anstrengung (Adorno 1999: 88ff.). Was den demokratiefähigen Menschen ausmacht, ist seine Fähigkeit zum Widerstand durch eigenes Denken und die Kraft zur Selbstbestimmung und zum Nicht-Mitmachen. Adorno formuliert sein Bildungsideal vor dem Hintergrund des Völkermords
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