Performer, Styler, Egoisten
geisteswissenschaftlich ausgerichtete Fächer einer schleichenden Marginalisierung zum Opfer. Ins Zentrum der schulischen und universitären Bildung traten technische, naturwissenschaftliche und betriebswirtschaftliche Themen. Auch die von PISA geförderte internationale Konkurrenz zwischen den Bildungsstandorten ist an dieser Schwerpunktsetzung ausgerichtet. Gefragt wird nach Lesekompetenz und Fertigkeiten in Mathematik und Naturwissenschaften. Ob jemand ein Instrument spielen kann oder über die Geschichte seines Landes Bescheid weiß, ist nicht mehr von Belang. Kulturelles Erbe wird vernachlässigt, weil man wohl davon ausgeht, dass es ohnehin verschwinden wird in einer globalen Medienkultur, in der weltweit auf allen Sendern „Dancing Stars“, „Saturday Night Fever“ und „Wer wird Millionär“ läuft.
Aber es geht um mehr als das Wissen um unser historisches Erbe oder um kulturelle Kontinuität, wenn wir die Geisteswissenschaften und die Kunst aus dem Schulunterricht nach und nach verdrängen. Es geht dabei auch um den Verlust der politischen Urteilskraft, eine basale Fähigkeit, um ein aktiver und gestaltender Bürger sein zu können. Denn die Geisteswissenschaften vermitteln Deutungswissen, reflektierendes Wissen und politische Urteilsfähigkeit, nach Oskar Negt die Qualitätsmerkmale einer aufgeklärten demokratischen Gesellschaft. Negt sieht eine Tendenz zur Halbierung der menschlichen Vernunft. Die halbierte Vernunft ist eine betriebswirtschaftlich-naturwissenschaftliche. Sie ist in erster Linie auf technische Rationalisierung und die Vereinfachung von Verfahren gerichtet. Die andere Hälfte der Vernunft, die Reflexionsfähigkeit und Deutungswissen repräsentiert, wird der Ökonomisierung geopfert. Damit hier kein Missverständnis entsteht: Es geht nicht um einen prinzipiellen Einwand gegen betriebswirtschaftliche Rationalität und schon gar nicht darum, die zwei verschiedenen Hälften der Vernunft gegeneinander auszuspielen. Vielmehr geht es darum zu verhindern, dass sich die halbierte Vernunft als bestimmend über das Ganze aufzuschwingen versucht (vgl. Negt 2010).
Ist das Humboldtsche Bildungsideal noch zeitgemäß?
Jeder, der sich heute noch auf Humboldt beruft, gilt als grenzenlos veraltet und verstaubt. Humboldt ist tot, lautet die Botschaft, seine Ideen gehören zu einer bürgerlichen Gesellschaft, deren Bildungsintentionen darauf gerichtet waren, eine schmale Elite im Geiste der Antike an den deutschen Universitäten zu erziehen. In einer (post-)modernen Wissensgesellschaft hat Humboldt keinen Platz mehr.
Trotz der verbreiteten Ablehnung der Bedeutung von Wilhelm von Humboldts Denken für unsere Zeit lohnt es sich doch, noch einmal Nachschau zu halten, welche Vorstellungen Humboldt von Bildung hatte und ob es nicht doch Gedanken in seinem Werk gibt, denen zu folgen auch heute lohnen würde. Für Humboldt besonders wichtig war das Individuum. Mit seinem Bildungskonzept versuchte er, einem idealen Zustand nahezukommen, „in welchem nicht nur jeder Einzelne der ungebundensten Freiheit genießt, sich aus sich selbst, in seiner Eigentümlichkeit, zu entwickeln, sondern in welchem auch die physische Natur keine andre Gestalt von Menschenhänden empfängt, als ihr jeder Einzelne nach dem Maaße seiner Bedürfnisse und seiner Neigung, nur beschränkt durch die Grenzen seiner Kraft und seines Rechts, selbst willkürlich gibt.“ (Humboldt 1792)
Der große Respekt vor dem Individuum gerade im Kontext von Bildungsbemühungen offenbart sich in diesem Gedanken. Für Humboldt geht es nicht darum, dem Individuum ein Curriculum überzustülpen und es einem systematischen Bildungsdrill zu unterwerfen, um dann am Ende ein möglichst flächendeckend homogenes Humankapital erzeugt zu haben, dessen Kompetenzen sich gut mit standardisierten Bildungstests überprüfen lassen. Ganz im Sinne Adornos scheint in Humboldts Überlegungen das Bemühen erkennbar zu sein, das Besondere gegen das Allgemeine zu verteidigen (vgl. Adorno 1971, Horkheimer/Adorno 1988). Bei Humboldt bilden nicht die Bildungsinstitutionen im Auftrage des Staates das Individuum, sondern das Individuum bildet sich selbst, während es in den Schulen und Universitäten mit den notwendigen technischen und moralischen Fähigkeiten versorgt wird. Und damit kommen wir zum ersten der fünf Ideale Humboldtscher Bildung, dem Ideal der Selbstbildung. Für Humboldt ist Bildung eine Angelegenheit des Individuums. Bildung ist für Humboldt auch
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