Performer, Styler, Egoisten
an sechs Millionen Juden zur Zeit des Nationalsozialismus.
Das Problem, das Adorno umtreibt, ist die Frage, unter welchen Bedingungen und Umständen Auschwitz hätte verhindert werden können. Er kommt zum Schluss, dass das zentrale Moment zur Verhinderung des Holocaust die Erziehung des Menschen zum mündigen, zum Widerspruch fähigen Menschen gewesen wäre. Er schreibt: „(...) die einzige wirkliche Konkretisierung der Mündigkeit besteht darin, dass die paar Menschen, die dazu gesonnen sind, mit aller Energie darauf hinwirken, dass die Erziehung eine Erziehung zum Widerspruch und zum Widerstand ist.“ Und weiter: „Die einzige wahrhafte Kraft gegen das Prinzip von Auschwitz wäre Autonomie, wenn ich den Kantischen Ausdruck verwenden darf; die Kraft zur Reflexion, zur Selbstbestimmung, zum Nicht-Mitmachen.“ (ebd.)
Die amerikanische Philosophin Martha C. Nussbaum weist auf eine „lautlose Krise“ (Nussbaum 2012: 15) hin, die die Bildungsarbeit weltweit erfasst hat. Nur was dem Profitstreben unmittelbar nutzt, wird als Bildungsinhalt zugelassen, alles andere, zum Beispiel Fächer, die benötigt werden, um die Demokratie am Leben zu erhalten, werden nach und nach ausgedünnt mit dem Ziel, am Ende völlig aus dem Inhalt des herrschenden Bildungskanons ausgeschieden zu werden. Nussbaum spricht sich im Gegensatz dazu für eine Bildung nach einem umfassenden Vernunftideal aus, das neben naturwissenschaftlichen und technischen auch geisteswissenschaftliche Inhalte berücksichtigt. Wie Osker Negt ist sie der Auffassung, dass Letztere es sind, die einen wesentlichen Beitrag zur Demokratiefähigkeit des Menschen leisten. „Es ist nichts gegen eine gute naturwissenschaftliche und technische Ausbildung einzuwenden (...). Meine Sorge ist vielmehr, dass (...) entscheidende Fähigkeiten in diesem Konkurrenzgetümmel verloren gehen, die unverzichtbar für das gute Funktionieren einer jeden Demokratie sind (...).“ (ebd.: 117) Die Quelle dieser Fähigkeiten sind die Geisteswissenschaften, aber auch der Kunstunterricht, also die praktische Ausbildung in Zeichnen, Malen, Musik und Theater, alles Unterrichtsgegenstände, die zusehends aus einem immer fachspezifischer werdenden Kanon der Bildungsinhalte ausgeschieden werden. Bezeichnenderweise spielen diese im PISA-Testverfahren, das wohl gegenwärtig den größten Einfluss auf die öffentliche Meinung hat, wenn es um Bildung geht, überhaupt keine Rolle. Wo es nur mehr um sinnerfassendes Lesen und Wissen über Mathematik und Physik geht, muss die Allgemeinbildung notgedrungen der Herrschaft der „halbierten Vernunft“ weichen. Vielfach machen allerdings Wirtschaftsunternehmen schon heute die Erfahrung, dass die hochspezialisierten AbsolventInnen von fachspezifischen Ausbildungsgängen gerade aufgrund ihres Mangels an Allgemeinbildung das Wachstum und die Produktivität eher hemmen als fördern, einfach deshalb, weil sie aufgrund ihrer eingeschränkten Allgemeinbildung zu keiner Beziehungskommunikation mit kulturell anspruchsvollen Kunden (ja, solche gibt es noch) fähig sind und zudem wegen ihrer mangelnden Fähigkeit zur Entwicklung von eigenständigen und kreativen Ideen auch nicht in der Lage sind, Innovationsimpulse ins Unternehmen einzubringen. „Diese Fähigkeiten erwachsen aus den Geisteswissenschaften und den Künsten; die Fähigkeit zum kritischen Denken, die Fähigkeit, über lokale Bindungen hinaus zu denken und die Probleme der Welt als ‚Weltbürger‘ anzugehen; und schließlich die Fähigkeit, sich in die Notlage eines anderen Menschen zu versetzen.“ (ebd.: 132)
Interessant an Nussbaums Text ist, dass sie nicht mit dem Konstatieren einer problematischen Bildungsrealität endet, sondern sich um konkrete Lösungsvorschläge bemüht. So verweist sie auf das in den USA existierende Studienmodell der „Liberal Arts“, eine vier Semester dauernde Grundausbildung, bei der die Geisteswissenschaften die Hauptrolle spielen. Die „Liberal Arts“ sind ein Bündel der unterschiedlichsten Bildungsinhalte, von der Naturwissenschaft über die Sozialwissenschaft bis hin zur Geisteswissenschaft, mittels dessen das vermittelt wird, was in unseren Breiten immer mehr zur Mangelware wird – Allgemeinbildung. Warum ist einem Teil der Amerikaner diese Allgemeinbildung so wichtig? Weil sie, wie auch Nussbaum, der Überzeugung sind, dass nur der allgemein gebildete Mensch zu einem selbständig denkenden und empathiefähigen demokratischen Bürger werden kann (vgl.
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