Pergamentum – Im Banne der Prophetin: Roman (German Edition)
stumm in gebührlichem Abstand zur Medica.
Die Tür wurde aufgestoßen, und mit Margarete drang eisige Luft in die Krankenstube. Ihr Gesicht strahlte in großer Zufriedenheit, doch als sie Ida erblickte, verwandelte sich das Leuchten in respektvolle Ehrfurcht.
Sie kniete sich an das Krankenbett, strich über Idas verbundene Hände und flüsterte: »Es ist vorbei. Ich habe meine Sünden in der Furcht und im Schmerz der Reue anerkannt.«
Elysa merkte auf. »Was hast du getan?«
Margarete war anzusehen, dass sie sich der Antwort lieber entzogen hätte. Sie verharrte schweigend und blickte ausweichend zum Boden. Dann begann sie stockend: »Ich habe schwer mit mir gerungen, so manche Nacht voller Zweifel durchwacht. Nun aber,da Ida vor aller Augen auf geweihtem Boden von einer Vision heimgesucht wurde und mit den Worten der Meisterin sprach, wurde mir offenbar, was zu tun war. Also ging ich, das Pergament zu holen, um es vor dem Altar in Angesicht des Gottessohnes am Kreuz zu verbrennen, um dem Herrn zu gefallen und das Unglück von uns zu wenden.«
Elysa starrte sie an. »Du hast das Pergament verbrannt? Wie konntest du das tun?«
Margarete biss sich auf die Lippen. »Es war das einzig Richtige.«
»Du Närrin! So hast du uns der einzigen Möglichkeit beraubt, die Vorfälle zu beenden!« Elysa spürte eine heiße Furcht in sich aufwallen.
»Ich habe sie beendet«, entgegnete Margarete trotzig.
»Nein, Margarete«, erwiderte Elysa voller Zorn, »denn der Mönch, der das Pergament in der Stunde seines Todes umklammerte, war ein Vertrauter der Heiligen, und die Worte, die er wirr von sich gab, waren vermutlich Worte der Lingua Ignota , jener Sprache, in der Hildegard sich mit dem damaligen Abt von Zwiefalten verständigte. Wenn nun die seltsamen Buchstaben auf dem Pergament eine Botschaft waren? Gar eine Botschaft der seligen Hildegard? Der Teufel war in Menschengestalt erschienen, um sich des Pergaments zu bemächtigen, denn er fürchtete die Wahrheit, die in ihm stand!«
Margarete schaute sie argwöhnisch an. »Du urteilst aufgrund voreiliger Vermutungen.«
»Vermutungen, die Clemens von Hagen bei seiner Rückkehr als Tatsache bezeugen wird. Denn sein Ansinnen, der Priorin mit einer Untersuchung zur Hilfe zu eilen, war getrieben von der Furcht, Hildegards Vermächtnis würde zerstört und in den Schmutz gezogen. Nun, in einem Punkt hat sich seine schlimme Vorahnung erfüllt: Nicht alles, was Hildegard der Christenheitvermachen wollte, wird jemals in die Welt getragen. Denn sollte das verbrannte Pergament aus dem Rupertsberger Kloster stammen, so war seine Botschaft gewiss von Hildegard. Nun frage ich dich, Margarete, auch wenn du im reinen Bestreben gehandelt hast: Wie soll nun die Posaune vom Firmament der Gerechtigkeit Gottes schallen, damit die Menschheit die verlorene Botschaft erhört?«
Margarete erbleichte. »Der Herr stehe uns bei«, flüsterte sie.
»Schweigt!«, rief Jutta, legte den Finger auf den Mund und zeigte zu Ida, die noch immer mit verschlossenen Lidern lag. »Lasst uns im Kreuzgang wandeln und über das Gesagte meditieren.«
Der Tag war schwarz bewölkt, in der Ferne grollte unablässig der Donner. Hoch oben auf dem Dach hämmerten die Handwerker unwirklichen Schatten gleich.
Die drei Frauen gingen langsam, umrundeten den Kreuzhof, zunächst schweigend, dann ergriff Jutta das Wort.
»Es sind schwere Vorwürfe, die du erhebst, Elysa, und du ereiferst dich in Spekulationen.«
»Es sind keine Spekulationen, ehrwürdige Schwester«, erwiderte Elysa. »Lange suchte ich im Dunkeln, doch nun ergibt alles einen Sinn.« Sie blieb stehen und sah die Medica eindringlich an. »Der Mönch war auf der Suche nach einer Antwort hier im Kloster, dessen bin ich mir gewiss. Und er war ein Vertrauter der Prophetin, denn er kam jedes Jahr zum Hildegardisfest. Als Bote des Klosters Zwiefalten verstand er die seltsame Sprache, die unvollständig im Codex einging, der Hildegards Werke zusammenfasst. Adalbert hielt das Pergament in der Todesstunde fest umklammert, als gälte es, etwas zu verteidigen.« Sie dachte an das Fragment, das sie in der Krypta in Händen gehalten hatte, und wandte sich an Margarete. »Du selbst hast das Pergamentgesehen, es enthielt eine lateinische Schrift und eine überaus kostbare Miniatur, doch es war noch etwas darauf verborgen – in einer geheimen Schrift und erst später sichtbar gemacht. Nun, es liegt nahe, dass Adalbert in diesem Kloster nach etwas suchte, was dieses Fragment
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