Pergamentum – Im Banne der Prophetin: Roman (German Edition)
trieb er es an. Solange es ohne Zaudern lief, würde er weiterreiten. Er kam gut voran und könnte den Rupertsberg noch vor Anbruch der Dunkelheit erreichen.
7
E lysa erklomm die Wendeltreppe zum Skriptorium, um das, was ihr noch im Gedächtnis war, niederzuschreiben. Freilich nur die lateinischen Worte, die ohnehin bedeutungslos sein würden, die eigentümliche Schrift hingegen war für immer verloren.
Margarete folgte ihr dichtauf, mit sichtlichem Unbehagen, an den Ort des Schreckens zurückzukehren. Sie hatte eine Laterne mitgenommen, die flackernd leuchtete.
Elysa blies den Staub von den beiden Schreibpulten, die unter dem Fenster zur Westseite standen, und setzte sich an jenes, das einen freien Blick auf die Wendeltreppe gewährte. Während sie sich insgeheim tadelte, Margarete nicht schon früher über ihre Vermutungen zum Pergament aufgeklärt zu haben, erinnerte sie sich plötzlich an die eisenbeschlagene Truhe unter dem Fenster auf der gegenüberliegenden Seite, die sie gestern vergeblich zu öffnen versucht hatte.
»Was ist in der großen Truhe dort?«, fragte sie Margarete, die sich soeben nach Pergament, Federkiel und Tinte umsah.
»Das ist die Archivtruhe. Sie enthält die Klosterannalen, in die noch vor Jahren alles einfloss, was im Kloster vorging. Den Schlüssel dazu hütet die Priorin. Ich kann sie danach fragen, wenn es uns dienlich ist.«
»Unter welchem Vorwand willst du fragen?«
»Dass ich danach strebe, die Annalen um all die Vorkommnisseder letzten Wochen zu ergänzen.« Margarete seufzte. »Doch ich fürchte, sie wird es nicht gelten lassen. Es ist lange her, dass sie eine Nonne dazu ermunterte, im Skriptorium zu arbeiten. Allein die Korrespondenz, die sie selbst vornimmt, wird nicht im Skriptorium geschrieben, sondern in ihrer Zelle. Ich sah, dass sie dort eigens zu diesem Zwecke eines der Schreibpulte aus dem Skriptorium entfernen und bei sich aufstellen ließ.«
»Ich komme nicht umhin, mich zu fragen, warum Agnes Skriptorium und Bibliothek so sträflich vernachlässigt. Von Jutta weiß ich, dass sie einst Bibliothekarin im Rupertsberger Kloster war. Ein ehrenvolles Amt, das man indes nur erlangt, wenn man strebsam ist und sorgfältig mit dem Schrifttum umzugehen weiß.«
»Das ist lange her«, erwiderte Margarete.
»Jutta erwähnte auch den Ehrgeiz, den Agnes besaß, und ihren Wunsch, Äbtissin vom Rupertsberg zu werden.«
»Ja, das ist wahr«, erklärte Margarete nachdenklich. »Sie verzehrte sich in brennender Sehnsucht nach dem Höchsten, doch konnte nie gesättigt werden.«
Elysa senkte die Augen und blieb eine Weile stumm. Sie dachte an all das verlorene Streben und an die Enttäuschung, welche die Priorin Agnes offenbar auch gespürt hatte. Ohne Ida wäre das Kloster ohne Zucht und Ordnung. Ahnte Agnes, dass sie mit der blinden Nonne auch ihre einzige Stütze preisgegeben hatte?
Sie wandte den Blick wieder zum Pult vor sich und auf das unbeschriebene Pergament, das Margarete ihr unterdessen hingelegt hatte. Ein grobes Blatt, nicht annähernd so fein wie das des Mönches, unsauber geschliffen mit deutlich erkennbaren Poren. Nun reichte die Nonne ihr einen Federkiel und, mit einem bedauernden Schulterzucken, ein Horn, in das man Tinte zu füllen pflegte. Diese jedoch war getrocknet und nicht mehr zu gebrauchen.
Elysa schob das Pergament zur Seite und stützte den Kopf in die Hände. »Wir sollten uns auf das verlorene Pergament besinnen«,sagte sie ernst. »Ich kann mich noch gut an die Miniatur erinnern. Wolken in Schattierungen von Grau und Azurit, nach unten hin mit brauner Farbgebung. Eine dunklere Fläche aus Indigo – war es der Himmel samt seiner Sterne? Ja, darauf waren weiße Punkte, die Blumen glichen. Dann am gerissenen Rand loderndes Feuer …«
»Gütiger Himmel!« Margarete, die sich an den gegenüberliegenden Tisch gesetzt hatte, sprang auf. »Während all der Tage dachte ich, die Miniatur zu kennen, doch ich konnte sie nicht zuordnen. Ja, etwas hatte mich irritiert, als ich sie zum ersten Mal hier in diesen Räumen erblickte. Doch nun wird mir die Gewissheit offenbar.« Sie schritt zum Bücherschrank an der Stirnseite des Raumes und strich über die Buchrücken. »Es fehlt!«
»Was fehlt?« Nun war auch Elysa aufgesprungen.
»Sieh hier!« Margarete griff in das Regal. »Neben den Werken zur theologischen Erbauung und musikalische Arbeiten sind auch die großen Visionsschriften der Hildegard von Bingen zu finden: der Liber divinorum operum und Liber
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