Perlensamt
wußte, daß es existierte? Der Sturz aus der himmlischen Fiktion, die von der Sonne einer bürgerlichen Wirklichkeit beschienen wurde, war erst der Anfang. Im Internat lernte Perlensamt, ein Abetz zu sein. Man unterrichtete ihn in seiner Schuld. Bald sollte er alles über Abetz wissen, was Herr Bernstein für nötig befand. Er lernte von einem Fremden, wer sein Großvater gewesen war und was er verbrochen hatte. Herr Bernstein hatte sich mit allen Abetz vertraut gemacht, die er hatte finden können. So war er bei Perlensamts gelandet. Aus gutem Grund. Hitlers Botschafter hatte ihm alles genommen: Familie, Vermögen, Elternhaus, Heimat, Reputation. Bernstein wußte, daß er nichts davon nachweisen konnte. Gerade das war das Banner, das er über allem hielt. Die totale Vernichtung von Wurzeln und Stamm. Seine Großeltern vermutete man verschollen in Theresienstadt. Die Kunstsammlung seiner Tante Elisabetha, die an der Pariser Place de Furstenberg beheimatet gewesen war, galt als in alle Winde verstreut. Das elsässische Familienhaus hatten die einheimischen Nazis dem Erdboden gleich gemacht. Unter all dem stand eine Unterschrift: Otto Abetz. Und Bernstein war der letzte, einzige Bernstein, den es noch gab. Er hatte überlebt durch eine geheime Odyssee quer durch Deutschland. Ein Kindertransport nach London hatte ihn in letzter Minute gerettet. Er hatte nichts mehr außer seinem Schmerz und seinem Zorn. Nun hatte er David durch einen Zufall gefunden. Zufall? Die Güte der Zeit hatte ihm dieses Kleinod in die Hände gespült. Welch ein Akt der Gnade, daß er David quälen konnte. Die Angst, die er den Jungen fühlen ließ, die Bedrückung, die Ausweglosigkeit, da niemand sich an seine Seite stellte, war Bernsteins Angst gewesen. Davids verzweifelte Tränen im Internat waren Bernsteins Tränen im Londoner Exil. Wie David nun allein war ohne die Unterstützung der fernen Eltern, ausgeliefert fremder Willkür, so war auch Bernstein ausgeliefert gewesen. Bernstein ließ ihn um fünf statt um halb sieben aufstehen. Er ließ ihn seine Schuhe und den Boden seiner Dienstwohnung putzen. Wenn David fertig war, verschüttete der Lehrer mit Absicht seinen Kaffee und ließ den Jungen von vorne anfangen. Er stellte ihn vor der Klasse bloß. Bernstein liest laut vor, wessen Davids Großvater angeklagt und für schuldig befunden worden ist. Er fängt mit den schönen Gesten der Verständigung an, Frankreich, Deutschland, Jugendaustausch, Konzert und Bildende Kunst. Na, Perlensamt, ha, Abetz, meine ich, was hängt denn bei Ihnen zu Hause noch so rum? Er wirft Abbildungen mit einem Epidiaskop an die Wand, so daß sich die Mitschüler ein Bild von den Bildern machen können, hauptsächlich französische Realisten, erfahren die Kinder in dieser Französischklasse, die fast zu einer kunsthistorischen Vorlesung wird. In der nächsten Stunde kommen wir zum Schmuck, den geraubten Juwelen. Mit denen behängten die Nazis, diese Stinktiere, die Kartoffelkäfer, die fetten Hälse und speckigen Wurstfinger ihrer Weiber und Mätressen. David schwindelt der Kopf. Er sieht seine Mutter Miriam nie mit Schmuck. Er kann nichts dazu sagen. Er ist zwölf Jahre alt. Er interessiert sich nicht für Juwelen. Die großen Toiletten seiner Mutter sind ihm im Weg. Sie verhindern die Nähe. An mehr erinnert er sich nicht. Er soll wohlerzogen sein, gut lernen, die Firma des Vaters übernehmen. David redete sich so ins Fieber, daß ihm gar nicht auffiel, wie sehr er sich widersprach. Nun war nicht mehr von der großen Intimität zwischen ihm und seiner Mutter die Rede. Als sie sich nach einigen Wochen endlich meldete, hatte sich längst auch der letzte Freund von dem ohnehin schüchternen Jungen abgewendet. Er erzählte ihr, was vorgefallen war, und sie vertröstete ihn. Eine weitere Woche verging, dann ließ Alfred Perlensamt seinem Sohn durch seine Frau ausrichten, wenn er wolle, könne er zurückkommen nach Berlin oder sich ein neues Internat aussuchen.
»Mein Gott, sie waren wirklich so – teilnahmslos?«
David zuckte mit den Achseln. »Sie hatten ja ein Einsehen. Ich mußte nicht bleiben. Aber andererseits wollten sie auch nichts damit zu tun haben. Sie sagten, ich solle so tun, als ob nichts gewesen sei, und den Leuten keine Angriffsfläche bieten. Sie waren davon überzeugt, daß es richtig war, die Spuren zu verwischen. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob meine Mutter wußte, wen sie geheiratet hatte. Vielleicht hat mein Vater es ihr erst nach der
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